Joe Manchin, demokratisches Zünglein an der Waage.

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Ein Hausboot in Washington als Domizil eines Senators, das wirkt nur auf den ersten Blick wie eine Marotte. Denn eigentlich ist es sehr praktisch, die Nächte auf einem Boot am Ufer des Potomac River zu verbringen, wenn man tagsüber im Kapitol zu tun hat. Vom Steg am Fluss ist es nicht weit bis zum Parlament. Weht eine frische Brise, lassen sich die berüchtigt schwülen Sommernächte, die ja oft schon im Mai beginnen, leichter ertragen. Joe Manchin wohnt seit Jahren die Woche über auf einem Boot, bevor er an den Wochenenden zurückkehrt in sein geliebtes West Virginia.

"Almost Heaven" hat er den Kahn genannt, nach einer Zeile des Lieds "Take Me Home, Country Roads", in dem John Denver die Schönheiten West Virginias besingt. Manchin, 74 Jahre alt, US-Senator seit 2011, gilt als Inbegriff des Lokalpatrioten. Eines Lokalpatrioten, der so hartnäckig für die Interessen seines Bundesstaats kämpft, dass es bisweilen an einen Tunnelblick oder Scheuklappen denken lässt. Sieht man es mit den Augen Joe Bidens, ist er der kantige, störrische Parteifreund, der einem im Zweifelsfall noch mehr zusetzt als der politische Gegner. Es liegt in Manchins Macht, das ehrgeizige Reformbauwerk des Präsidenten zurechtzustutzen auf ein Gerippe, das den Namen Reform nicht wirklich verdient. Er kann die so dringlich beschworene Offensive für besseren Klimaschutz so gründlich abbremsen, dass von Bidens Aufbruch zu neuen Ufern nicht mehr viel bleibt. Er ist, wenn man so will, die wahre Nemesis des Staatschefs.

Persönliches Anliegen

Lösen lässt sich der Konflikt wahrscheinlich nicht. Manchin vertritt nun mal einen Staat, der nicht nur lange vom Abbau der Steinkohle lebte, sondern sich voller Stolz, trotzig gegen den Strich bürstend, zu seiner Identität als Coal Country bekennt. "Der Stahl, mit dem diese Nation aufgebaut wurde, wurde mit der Kohle aus unseren Bergen erzeugt": Der Satz gehört zum Standardrepertoire lokaler Amtsträger in West Virginia. Bei Manchin wird es persönlich. Bevor er in die Politik ging, verdiente er sein Geld als Makler im Kohlehandel. Zudem vertritt er einen Staat, den Donald Trump bei zwei Wahlen in Folge mit großem Vorsprung gewann, was nicht nur, aber doch ganz wesentlich mit der Klima-Agenda der Demokraten zu tun hatte.

War West Virginia bis vor ungefähr einem Vierteljahrhundert eine Hochburg der Partei Franklin D. Roosevelts, John F. Kennedys und Bill Clintons, so ist es inzwischen eindeutig der republikanischen Phalanx zuzurechnen. Der Wandel lässt Manchin fast wie ein Relikt erscheinen. Ein vom Aussterben Bedrohter, ein Demokrat, der dem Trend ein Schnippchen schlägt. Allerdings gelingt ihm das nur, weil er sich in der Sache so deutlich abgrenzt vom Mainstream der Demokraten, dass er auch Mitglied der Republikanischen Partei sein könnte.

Manchins Schlingerkurs

Vor drei Jahren, als West Virginia über seine Wiederwahl zu entscheiden hatte, verteidigte er seinen Senatssitz, indem er einen Schlingerkurs fuhr. Trump, der Eigenwerbung nach Vorkämpfer für das Comeback von Kohle und Stahl in Amerika, hatte ihm einen Posten im Kabinett angeboten. Was Manchin dankend ablehnte, ohne auf Konfrontationskurs zu dem bekanntermaßen dünnhäutigen Milliardär zu gehen. Trump, lobte er, habe ihm gründlicher zugehört, als es bei Obama je der Fall gewesen sei.

Der Demokratischen Partei hielt er die Treue, obwohl sich die Republikaner nach Kräften bemühten, ihn zum Seitenwechsel zu überreden. Er stimmte gegen Trumps Steuersenkungspaket, nur um später – als einziger Demokrat im Senat – für die Beförderung des umstrittenen Richters Brett Kavanaugh an den Supreme Court zu votieren. Manchin, der Slalomläufer.

Dilemma im Senat

Verzichten können die Demokraten nicht auf ihn. Damit stecken sie zwangsläufig in einem Dilemma angesichts einer Senatskammer, in der sie, genau wie die Opposition, auf 50 Mandate kommen – und in der es des Machtworts der Vizepräsidentin Kamala Harris bedarf, um ein Patt aufzulösen. Man kann es auf eine simple Formel bringen: Legt sich Manchin quer, bleibt Makulatur, was Biden an Gesetzen durchzusetzen versucht. Die Folgen sind dramatisch. Ein drei Billionen Dollar schweres Reformpaket, über das der Kongress nun schon seit Monaten verhandelt, eine Kombination aus Sozialprogrammen, Klimaschutzinvestitionen und Blaupausen zur Modernisierung der Infrastruktur, kann die Legislative offenkundig nur in stark abgespeckter Form passieren.

Das Infrastrukturpaket, 1,2 Billionen Dollar schwer, am Freitag beschlossen, ist das absolute Minimum dessen, was Biden sich vorgenommen hat. Das oben zitierte Gerippe. Ob weitere Schritte folgen, ist höchst ungewiss. Den Vorschlag, 150 Milliarden an finanziellen Anreizen zu setzen, um Energieunternehmen die Abkehr von fossilen Brennstoffen zu erleichtern, lehnt Manchin, um nur ein Beispiel zu nennen, rundheraus ab.

Gegen Klimaschutz und Karenzurlaub

Das Nein in Klimaschutzfragen hat bei ihm Tradition, bisweilen drastisch illustriert. Im Jahr 2010 – damals kandidierte er erstmals für den Senat – stellte er sich für ein Wahlkampfvideo auf eine Lichtung im Wald, legte eine Patrone in den Lauf einer Schrotflinte und zielte auf ein Blatt Papier, das er zuvor an ein Brett genagelt hatte. Es handelte sich um die erste Seite eines Gesetzentwurfs, mit dessen Hilfe die Treibhausgasemissionen von Kohlekraftwerken begrenzt werden sollten. Manchin nahm die "Cap and Trade Bill" buchstäblich ins Visier, bevor sie in Washington scheiterte.

Auch beim Thema Mutterschutz hat er seine Partei zur Umkehr gezwungen. Ursprünglich peilten die Demokraten drei Monate bezahlten Mutterschutz an. Dann wollten sie wenigstens vier Wochen durchsetzen, doch selbst das ging dem Skeptiker aus West Virginia zu weit, weil es höhere Staatsausgaben bedeutet hätte. Es endete damit, dass Biden ganz auf einen Vorstoß in Sachen "paid leave" verzichtete, in der Hoffnung, zumindest eine Sparversion seiner Reformnovelle durchboxen zu können – und nicht als ein Präsident dazustehen, dem rein gar nichts gelingt. Manchin, der Kaiser des Parlaments.

Spaltung mit den Jahren verschärft

Früher wäre das anders gewesen. Noch Bill Clinton konnte, wenn auch mit der Zeit immer seltener, nicht ohne Grund darauf hoffen, in den Reihen der Gegenpartei Verbündete zu finden, die ihn von Fall zu Fall unterstützen springen würden. Es gab eher progressive Republikaner, besonders im Nordosten des Landes, so wie es, speziell in den Südstaaten, eher konservative Demokraten gab. Das Lagerdenken war weniger absolut, schon das ermöglichte hier und da Kompromisse.

Spätestens unter Barack Obama ist die Hoffnung auf Ausgleich gestorben: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, setzte die "Grand Old Party" auf Totalopposition. Unter Trump, der von der Spaltung lebte, wurde die Schlucht noch breiter. Mit Joe Biden verband sich die Hoffnung auf den Brückenbau. Erfüllt hat sie sich nicht, im Gegenteil. Und das lässt Joe Manchin, dem Zünglein an der Waage, eine Macht zuwachsen, die er in einer normalen, aufgelockerten politischen Landschaft niemals hätte. (Frank Herrmann, 8.11.2021)