Die Rekonstruktion zeigt, welche Fragmente des Kinderschädels entdeckt wurden.
Foto: Wits University

Die Funde aus früheren Epochen der Menschheitsgeschichte sind rar gesät. Deshalb ist es jedes Mal aufs Neue ein Glücksfall, auf Knochen zu stoßen, die mehrere hunderttausend Jahre alt sind. In Höhlen sind solche Skelettreste oft gut vor Wind und Wetter geschützt. In der südafrikanischen Rising-Star-Höhle in der Nähe von Johannesburg etwa stießen Forschende 2013 erstmals auf Überreste gleich mehrerer Menschen, die einer neuen Spezies zugeordnet wurden, dem Homo naledi. Ihr Alter wird auf 240.000 bis 335.000 Jahre geschätzt. Naledi, das bedeutet in der Sprache Sosotho "Stern".

Wer in der Rising-Star-Höhle die hintersten Winkel aufsuchen will, sollte nicht an Klaustrophobie leiden.
Foto: Wits University

Forscher, vor allem aber Forscherinnen förderten seitdem eine beachtliche Anzahl an Knochen zutage. Lee Berger, Paläoanthropologe an der Witwatersrand-Universität (kurz: Wits University) in Johannesburg, hatte explizit nach kleinen und zierlichen Personen gesucht. Denn das Erkunden der schmalen Spalten und engen Durchbrüche in der Höhle ist eine Herausforderung.

Die sechs Forscherinnen, die Teil der ursprünglichen Mission waren, teilen nicht nur ein besonderes Auswahlverfahren mit jenen Menschen, die auf Weltraummissionen geschickt werden. Die Arbeit in den entlegenen Teilen der Höhle ist "eine Reise durch die Dunkelheit", sagt die Kanadierin Marina Elliott, die zur Forschungsgruppe gehört. Sie und die anderen Höhlenforscherinnen seien dann nur per Video und Ton mit einem "Kommandozentrum" an der Oberfläche verbunden, und sie tragen zueinander passende Overalls und Helme. Daher werden sie auch als "Untergrund-Astronautinnen" bezeichnet.

National Geographic

Nun gelang dem Team ein Fund, der sich in einer besonders schwierig erreichbaren Zone des Höhlennetzwerks befand. Elliott, Erstautorin von einer der zugehörigen Studien, und ihre Kolleginnen mussten sich dafür durch ein Loch zwängen, das nur etwa 18 Zentimeter breit und 80 Zentimeter lang ist – und das in Dunkelheit, die nur von Stirnlampen erhellt wird. Aber nicht nur der Zugang ist ungewöhnlich, auch der Fund selbst: Es handelt sich nämlich um Fragmente eines Kinderschädels. Genannt wurden sie "Leti". In der Sprache Setswana bedeutet das Wort "letimela" so viel wie "das Verlorene".

Seltener Fund

Bei seinem Tod war das Kind ungefähr vier bis sechs Jahre alt, schätzen die Fachleute. Sie stießen auf 28 Knochenteile, die zum Schädel gehörten, genauer: zum Schädeldach, zum Stirnbereich und zum Kiefer. Außerdem wurden sechs Zähne aufgefunden. Schädel- und Zahnfunde liefern generell nicht nur wichtige Hinweise auf das Alter eines Individuums, sondern auch auf die Entwicklung dieser menschlichen Art. Das neue Knochenmaterial wurde noch nicht datiert, die derzeitige Altersschätzung basiert auf den bisherigen Funden dieser Spezies in der Höhle.

Dass die filigranen und brüchigen Knochen eines Kindes entdeckt werden, ist eine Seltenheit – und eine Neuheit im Falle des Homo naledi. "Dieser erste, teilweise erhaltene Schädel eines Kindes von Homo naledi trägt dazu bei, dass wir Einsichten in alle Lebensphasen dieser bemerkenswerten Spezies erhalten", sagt die Erstautorin der zweiten Studie, Juliet Brophy von der Louisiana State University.

Kleine Spezies

Die Zähne und Knochenteile konnten nur dokumentiert und geborgen werden, indem eine der Forscherinnen quasi kopfüber in einen schmalen Spalt tauchte und um eine Ecke langte. Das zeigt bereits, dass es sich bei der Gruppe der Homo naledi um wesentlich kleiner und schmaler gebaute Menschen handelte. Auch ihr Hirnvolumen war relativ klein, vergleichbar mit dem von Menschenaffen.

Der Schädel und das entsprechend geschätzte Hirnvolumen sind wie bei den anderen Individuen dieser Art ziemlich klein.
Foto: Wits University

Leti dürfte mit seinen schätzungsweise 480 bis 610 Kubikzentimetern größenmäßig schon etwa 90 Prozent eines Erwachsenen seiner Spezies erreicht haben. Außerdem ist das Gehirn in einer ähnlichen Größenordnung wie viel ältere Funde von Kinderskeletten, die dem Homo erectus oder sogar der Gattung Australopithecus zugerechnet werden.

Das stellt Fachleute vor interessante Fragen. Warum gab es vor etwa 200.000 bis 300.000 Jahren, also in einer relativ jungen Episode der Menschheitsgeschichte, als es wohl schon Homo sapiens gab, noch Menschenarten mit solch archaischen Merkmalen? Wie entwickelten sich andererseits recht moderne Merkmale, die sich ebenfalls finden? Auch in Indonesien gibt es bemerkenswert kleine Skelettfunde, die als Homo floresiensis oder "Hobbit" (60.000 bis 100.000 Jahre alt) sowie dessen noch kleinere Vorfahren (700.000 Jahre alt) bezeichnet werden.

Große Rätsel

Ein weiteres Rätsel: Was passierte mit den verschwundenen Teilen des Skeletts? Und vor allem: Warum befand es sich in einer kaum erreichbaren Nische, fern von anderen Funden? Die Forschungsgruppe fand keine Hinweise darauf, dass die menschlichen Knochen dieser Spezies, die in der Höhle entdeckt wurden, durch Wasser oder wilde Tiere in diesen Höhlenspalt gebracht wurden. Ihre gewagte These: Das Kind wurde hier von Mitgliedern seiner Gemeinschaft bestattet.

Kürzlich präsentierte Lee Berger den aufsehenerregenden Fund.
Foto: Wits University

Wie bei den anderen menschlichen Überresten vermutet das Team, dass sie absichtlich in diesen schwer zugänglichen Bereichen der Höhle landeten. Homo naledi könnte hier also eine Art Friedhof eingerichtet und Verstorbene – ob als Leichen oder als Knochen – zur Bestattung niedergelegt haben. Es ist jedoch schwierig, deutliche Beweise für ein solches Verhalten zu finden. Und es bleibt die Frage, weshalb Leti sich in diesem noch entlegeneren Winkel befand, der etwa zwölf Meter entfernt liegt von der Dinaledi-Kammer, wo man auf die ersten fünfzehn Individuen dieser Menschenart stieß.

"Homo naledi bleibt eine der rätselhaftesten urzeitlichen Menschenverwandten, die je entdeckt wurden", sagt Lee Berger. "Das ist klarerweise eine ursprüngliche Spezies, die zu einer Zeit lebte, von der wir früher dachten, dass damals nur moderne Menschen in Afrika lebten." Allein dass sie zu jener Zeit an jenem Ort existierte, verdeutlicht das komplexe Bild unserer Vergangenheit, betont der Forscher – etwa was die Erfindung elaborierter Steinwerkzeuge und ritueller Praktiken angeht. (Julia Sica, 8.11.2021)

Ein Video der Universität Witwatersrand beschreibt Fundort und Interpretation.
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