Ewa Ernst-Dziedzic (Mitte hinten), grüne Abgeordnete aus Österreich, möchte vor Ort auf die Lage der Migrantinnen und Migranten im polnisch-belarussischen Grenzgebiet aufmerksam machen.

Foto: Christopher Glanzl

Lange war der europäische Blick auf Flüchtlingsrouten fast nur nach Süden gerichtet. Es waren die Wege über das Mittelmeer, über Griechenland und den Balkan oder über Italien, die im Fokus der politischen Aufmerksamkeit standen. Seit über einem halben Jahr allerdings beschäftigt im Norden des Kontinents auch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko die europäische Asylpolitik.

Im Mai hatte dieser erklärt, Migranten auf dem Weg in die EU nicht mehr aufhalten zu wollen. Die EU wirft ihm vor, diese gezielt ins Land zu holen und an die EU-Außengrenze zu schleusen, um den Migrationsdruck auf Europa zu erhöhen und sich auf diese Art für die Sanktionen gegen sein autoritäres Regime zu rächen. Wie die "Welt am Sonntag" berichtet, sei zuletzt auch die Zahl der Flüge aus dem Nahen Osten nach Minsk deutlich erhöht worden.

Die Leidtragenden sind einmal mehr die Geflüchteten selbst. Seit Monaten gibt es Berichte über Menschen, die an den Grenzen zu Polen, Lettland und Litauen festsitzen. Die meisten kommen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak und wollen sich nach Deutschland durchschlagen. Viele aber landen in provisorischen Lagern – oder in den Wäldern an der Grenze zwischen Belarus und Polen, wo es für hunderte Menschen kein Vor und kein Zurück gibt.

Sperrzone im Grenzgebiet

Ewa Ernst-Dziedzic, die außenpolitische Sprecherin der Grünen im österreichischen Nationalrat, ist am Samstag in die Grenzregion gereist, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Ein Unterfangen, das inzwischen sehr schwierig ist: Polen hat entlang der Grenze den Notstand ausgerufen und eine Zone geschaffen, in die nur Bewohner einreisen dürfen. Für Medienleute und Hilfsorganisationen ist dort bereits Endstation. Nur wenige schaffen es bis an die Grenze, um zu helfen oder die aussichtslose Lage der Geflüchteten wenigstens zu dokumentieren.

"Man wird ständig im Kreis geschickt", sagt Ernst-Dziedzic im Gespräch mit dem STANDARD – von einem Beamten zum nächsten, von einer Polizeistation zur anderen. Das würden auch Leute vom Roten Kreuz bestätigen, mit denen sie sprechen konnte: "Sie sagen, sie hätten das noch nie erlebt. In Afghanistan ist sogar eine Kooperation mit den Taliban möglich, um humanitäre Hilfe zu leisten. Polen aber lässt diese Hilfe einfach nicht zu."

Kurzes Wiedersehen

Begleitet wurde Ewa Ernst-Dziedzic am Samstag von einem jungen Syrer, der seit zwölf Jahren in Österreich lebt. Nun ist er seit einigen Wochen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, weil er erfahren hat, dass seine Eltern in den Wäldern festsitzen und bereits mehrfach Richtung Belarus zurückgeschoben wurden. Bei einem neuerlichen Pushback in der Nacht auf Samstag seien die Eltern getrennt worden. "Der Vater ist jetzt irgendwo allein im Wald. Wir haben keinen Kontakt zu ihm, wissen nicht, ob man ihm das Handy abgenommen hat."

Die Mutter hat sich auf der Flucht das Bein verletzt und wurde ins Spital gebracht. Dort durfte ihr Sohn sie zum ersten Mal seit zwölf Jahren für ein paar Minuten sehen. Danach sei die Mutter mit einem Militärfahrzeug weggebracht worden – zurück Richtung Grenze.

Das Spital ist Anlaufstelle für viele solcher Fälle, erzählt Ernst-Dziedzic. Die Situation belaste die Ärzte ebenso wie jene Grenzbeamten, die überlegen, den Dienst zu quittieren.

Europäisches Problem

Aktivistinnen und Aktivisten versuchen indes, irgendwie Essenspakete in den Wald zu schaffen. Auch die Bevölkerung vor Ort sei grundsätzlich hilfsbereit: "Die meisten wollen keine großen Fluchtbewegungen. Aber sie hören nachts im Wald Kinder schreien und sagen, dass man die Menschen nicht einfach sterben lassen kann." Wie viele Tote es inzwischen gibt, sei auch wegen der Sperrzone unklar.

Angesichts der humanitären Katastrophe fordert Ernst-Dziedzic nun einen europäischen Krisenstab. Die völkerrechtswidrigen Pushbacks seien nicht einfach nur ein polnisches Problem: "Diese Dinge passieren an unserer EU-Außengrenze. Und wir alle wissen, dass hier Geopolitik auf dem Rücken von Menschen gemacht wird." (Gerald Schubert, 8.11.2021)