Demonstration unter dem Motto "Gegen den Mietenwahnsinn – jetzt erst recht" am Potsdamer Platz in Berlin am 23. Mai 2021.

Foto: Imago Images

Mit seinem Volksentscheid für Enteignungen hat Berlin international am 26. September aufhorchen lassen. 56 Prozent der Berlinerinnen und Berliner, die am selben Tag auch den Bundestag und das Berliner Abgeordnetenhaus wählten, stimmten dafür, Wohnkonzerne wie Deutsche Wohnen oder Vonovia zu enteignen bzw. zu vergesellschaften, wie es korrekt heißt. Und das bei einem Quorum von 70 Prozent.

Luxus Wohnen

In Graz wurde am selben Tag die KPÖ stimmenstärkste Partei. Das Hauptthema der Stadtpartei war viele Jahre Wohnen.

Auch Florian Schmidt arbeitet sich seit Jahren, erst als Aktivist und in den letzten Jahren als grüner Politiker, am Thema Wohnen ab. Er ist der Baustadtrat des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Schmidt wird auch "Schrecken der Investoren" und "grüner Robin Hood" genannt und hat unter anderem die Verkehrsberuhigung des Kreuzberger Bergmannkiez vorangetrieben.

Am Freitag war Schmidt auf Einladung des grünen Bezirkschefs von Neubau, Markus Reiter, in Wien zu Gast und stellte im Architekturzentrum sein Buch "Wir holen uns die Stadt zurück" (Ullstein-Verlag) vor.

Kreuzbergs Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne).
Foto: Imago/Ditsch

Dass da zwei Politiker aus "Bobovierteln", wie ein Zuschauer meinte, über Enteignungen redeten, stimmt nicht ganz: Friedrichshain-Kreuzberg hat fast 290.000 Bewohner, ist also etwa so groß wie Graz und ist in manchen Teilen alles andere als gentrifiziert, in vielen Wohnblocks herrscht bittere Armut.

Kein Naturgesetz

Berlins Mieten waren im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten und anderen deutschen Städten bis vor rund zehn Jahren relativ moderat. In den letzten Jahren sind sie explodiert, am freien Markt sind kaum mehr Mietwohnungen zu bekommen, jedenfalls keine leistbaren. Spekulanten haben sich einen großen Teil des Wohnungsmarktes aufgeteilt. Doch Schmidt ist überzeugt: "Der entfesselte Markt ist kein Naturgesetz. Er ist ein politisch selbst gemachtes Problem", wie er am Freitag betonte.

Das erklärt er auch in seinem Buch, in dem er ein Kapitel dem "dekadenten System" der Immobilienwirtschaft widmet und offensiv für ein alternatives Wirtschaftssystem wirbt, in dem Verdrängung nicht als normal hingenommen wird.

"Man kann solche Entwicklungen stoppen", sagt Schmidt an Wien gerichtet. Immerhin beschäftigt auch Reiter in seinem Bezirk ein größeres Investorenprojekt, wie dieser einwirft.

Vergesellschaftung von Wohnraum

Auch wenn viel von der Berliner Rebellion und Enteignung die Rede ist, fordern Schmidt und seine Mitstreiter eigentlich nichts, was bei näherer Betrachtung gar umstürzlerisch klänge. Sollte die neue Berliner Stadtregierung den Volksentscheid wirklich umsetzen, würde man ausschließlich Konzerne, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, zum Verkauf drängen. Franziska Giffey (SPD), die sich im Dezember zur Regierenden Bürgermeisterin wählen lassen will, ist aber kein Fan des Volksentscheids.

Dabei sind Vergesellschaftungen in Deutschland vom Grundgesetz gedeckt, wenn es um das Gemeinwohl geht, und finden laufend statt: Wenn Autobahnen gebaut oder Kohle abgebaut werden soll, wird da nicht lange gefackelt. Beim Wohnraum scheint es kein Bewusstsein für das Gemeinwohl zu geben.

Schmidts Buch zeigt Beispiele, wo sich Kiez bewohner zusammenschlossen, um etwa durch Vorkaufsrecht Wohnraum zu sichern oder einfach nur ihre Umgebung lebenswerter zu machen. Das stärke auch die soziale Durchmischung.

Von den fast zwei Millionen Berliner Wohnungen sind nur 15 Prozent Eigentumswohnungen. Die Mietwohnungen sind zu 54 Prozent private Mietwohnungen, also weder städtisch noch genossenschaftlich.

Recht auf Wohnen

1973 wurde zwar der UN-Sozialpakt ratifiziert, in dem "der Anspruch auf eine angemessene Unterkunft als Menschenrecht verankert ist", wie Schmidt in seinem Buch erinnert, doch es ist nicht einklagbar. Dass diesen Jänner das EU-Parlament die Forderung nach einem Grundrecht auf Wohnen beschlossen hat, könnte international ein neuer Anstoß sein.

Ein Buch darüber, wie deutsche Konzerne "ein Grundbedürfnis zum Profit machten", erschien heuer übrigens auch in Wien: Philip Metzgers "Wohnkonzerne enteignen!" (Mandelbaum-Verlag). (Colette M. Schmidt, 8.11.2021)