Musik für Untergeher: Patrick Wagner, Helen Henfling und Jasmin Rilke (rechts) bilden die Band Gewalt – jetzt gibt es das ausgezeichnete Debütalbum.

Magnus Winter

Wenn es in der Kunst wieder einmal darum gehen sollte, dass sie die Starken stärken und den Schwachen Trost spenden muss, dann darf man um das Album Paradies der Berliner Band Gewalt einen großen Bogen machen. "Die Mutter liebt ihr Kind / Ihr Mann seinen Verein / Der Pfaffe auf der Kanzel / Schwafelt was von Seelenheil / Ein Anwalt stellt die Rechnung / und reicht die Scheidung ein. / Der ganze Kram vergeht. Stirb es gleich."

Der Song Stirb es gleich verhandelt das, was man abseits einer gewöhnlichen Erwerbsbiografie wohl gemeinhin normales kleinbürgerliches Leben nennt. Man möchte sich am liebsten gleich die Kugel geben.

Diesen Wunsch vermag Kunst doch eher selten auszulösen. Man sehnt sich ja gerade auch im Segment der musikalischen Sparte der Freizeitindustrie nach erlösenden Momenten. Mit stur pochender oder prügelnder DM1-Drum-Machine, verzerrt klirrenden, kreischenden und überhaupt an Klangfülle etwas kränkelnden und auf jeden Fall Richtung kaputtgetrimmten Gitarren und einem tief in den Eingeweiden des Menschengeschlechts wühlenden Bass wird dieser nachtschwarze Depressionismus allerdings entsprechend konterkariert.

Brülltier singt

Nachdem das mittlerweile gebrochen sprechsingende Brülltier Patrick Wagner und Gewalt für ihre Kunst gelitten haben, sollen jetzt wir an der Reihe sein. "Wie schön / Wir gehören zusammen / Wir sind eins / Wir sind gleich/ Was uns verbindet, ist unsere Gier / Nichts als unsere Gier."

This Charming Man Records

Nein, so funktioniert das auch nicht. In der Spannung zwischen runterziehenden Texten und brutaler, gnadenloser Gitarrenmusik, die den heute ja gern für abgelebt erklärten Rock mit der Betonung auf Noise ins Zentrum stellt, entsteht so in Songs wie Gier oder in Es funktioniert (eine Betrachtung über die nicht unwesentliche Kapitalismussparte der Angstmache) eine tiefe Melancholie. Die kann durchaus romantisch gedeutet werden. Allerdings muss die zur Romantik gehörende blaue Blume durch eine schwarze Totentrompete ersetzt werden.

Der Hit des Albums Paradies nennt sich Unterwerfung: "Folge mir / Alles überwunden / Wir hams geschafft / Wir sind angekommen. / Du bist glücklich, du fragst / Was ist da? Was ist da? Was ist da? Was ist da? / Nichts." Der mit zehn Minuten großzügig als Todesmarsch veranschlagte Titelsong selbst schließlich führt ins Irrenhaus: "Das ist mein, nur mein Paradies / Das ist mein Verzicht / Mein Ende / Mein Nichts."

Patrick Wagner ist mit seinen über 50 Jahren ein Veteran der deutschen Undergroundmusikszene. Vor über 20 Jahren löste er sein Kraftlackelrock-Trio Surrogat auf, das etwa schon mit Hell In Hell entscheidende Vorarbeit für Gewalt leistete. Danach gründete der immer auch gern zum ironischen Größenwahn neigende Wagner ("Patrick Wagner Superstar", "Größer als Gott") das Label Louisville. Er verpflichtete dafür heute weltweit bekannte Acts wie Peaches oder Chilly Gonzales oder auch das Jeans Team und die österreichischen Naked Lunch. Das ging natürlich nicht ewig gut, sondern pleite.

Gussbetonmusik

Wagner rettete sich auch aus der Scheidung von seiner damaligen (Geschäfts-)Partnerin und einer längeren Depression mit einem neuen Beruf. Er wurde Fußballjugendtrainer. Seit einigen Jahren macht er mit neuer Partnerin Helen Henfling an der zweiten Gitarre und nun, nach diversen Wechseln, auch schon länger mit der Wiener Tontechnikerin Jasmin Rilke am Bass als Gewalt wieder der Psychose zugeneigte Gussbetonmusik. Als Bonus setzt es auf dem Album sämtliche bisherigen Singles der Band. Wagner lehnte lange das alte Format Album als obsolet und überkommen ab und produzierte lieber regelmäßig gute alte Vinyl-Singles. Denen verdanken wir Perlen wie Guter Junge, Böser Junge oder Wir sind sicher und Szenen einer Ehe.

Clouds Hill Group

Laut Selbstauskunft geht es bei Gewalt um "Wucht, Intensität, Emotion". In der Schule der Prügelbeats und gebellten Unzufriedenheit mit der Gesamtsituation dienen Big Black, Rapeman, aber auch DAF oder Nitzer Ebb und irgendwo weit hinten die Einstürzenden Neubauten als Referenzen. Berlin bleibt jedenfalls trotz all der bunten Duracellhasen und Ecstasyschlucker in den Clubs schwarz. Nachtschwarz. (Christian Schachinger, 9.11.2021)