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Von dem Doppeldeckerbus war am vergangenen Montag nicht mehr viel zu retten.

Foto: AP /Peter Morrison

Schwerer Schreck in der Abendstunde: Maskierte Männer haben am Sonntag im nordirischen Newtownabbey (Grafschaft Antrim) einen Doppeldecker überfallen. Die vier Täter befahlen den Passagieren und dem Fahrer auszusteigen, anschließend steckten sie das Fahrzeug in Brand und verschwanden. Der zweite derartige Überfall binnen einer Woche verdeutlicht die gefährlich gespannte Lage im britischen Teil der grünen Insel. Seit Monaten schürt Großbritannien den Konflikt über das sogenannte Nordirland-Protokoll. In London wird erwartet, dass die konservative Brexit-Regierung von Premier Boris Johnson noch diesen Monat die Verabredung mit der EU suspendiert. Brüssel droht mit umgehenden Sanktionen.

Wie beim Brandanschlag auf einen Linienbus in Newtownards (Grafschaft Down) am Morgen des vergangenen Montags tappt die Polizei einstweilen im Dunkeln. Man ermittle in alle Richtungen, hieß es bei der Kripo. Allerdings deuten alle Anzeichen darauf hin, dass es sich bei den Tätern um protestantische Loyalisten ("loyal gegenüber der Krone") handelt. Kriminelle der gleichen Gesinnung waren schon an Ostern an schweren Krawallen in der Hauptstadt Belfast beteiligt, bei denen ein Doppeldecker in Flammen aufging.

Kritik am Nordirland-Protokoll

Während des blutigen Bürgerkriegs mit mehr als 3.000 Toten hatten sich Loyalisten in der Terrortruppe UVF zusammengetan. Ein früherer UVF-Kommandeur, Billy Hutchinson, führt jetzt die kleine Partei PUP. Gegenüber der in Dublin erscheinenden "Irish Times" pochte der 66-Jährige auf die "absolute Gewaltfreiheit" seiner Partei, sprach aber davon, das "unerträgliche und schädliche" Protokoll müsse verschwinden.

ORF

Die entsprechende Vereinbarung ist Teil des britischen EU-Austrittsvertrags. Sie sollte der besonderen Geschichte und Geografie Nordirlands gerecht werden, nämlich einerseits die kaum noch vorhandene Landgrenze zur Republik im Süden offenhalten und andererseits die territoriale Integrität des Königreichs wahren. Weil die konservative Regierung von Premierminister Boris Johnson einen harten Bruch mit Binnenmarkt und Zollunion herbeiführte, Brüssel aber auf die Integrität des Binnenmarktes pocht, wurden zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel Zoll- und Einfuhrkontrollen fällig. Neben anderen frischen Lebensmitteln geht es dabei vor allem um Fleischprodukte – Anlass für Londoner Zeitungen, begeistert den "Wurstkrieg" mit Brüssel herbeizuschreiben.

Probleme nach dem Brexit

Die EU-Behörden hatten die neuen Vorschriften zu Beginn des Jahres überaus kleinlich ausgelegt und sich damit den Unmut auch vieler europafreundlicher Iren zugezogen. Unter anderem geriet zeitweise die Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten in Gefahr. Auch fehlten in vielen Supermarktregalen die gewohnten Waren, weil die Frachtschiffe von der britischen Hauptinsel in den Häfen festlagen.

London reagierte darauf zunächst mit der Verlängerung von Übergangsfristen und legte im Sommer einen Forderungskatalog vor, der eine Neuverhandlung über Nordirland zur Folge hätte. Kommt nicht in Frage, antwortete Brüssel und machte im Oktober weitreichende Zugeständnisse an die Praxis vor Ort, ohne aber am Vertragstext zu rütteln.

Keine Bewegung im Streit

Man dürfe "nicht naiv" sein, argumentiert Dublins Außenminister Simon Coveney: Die Brexit-Regierung sei dazu entschlossen, das Protokoll aufzukündigen. Für diesen Fall hat Brüssel öffentlich "ernste Konsequenzen" in Aussicht gestellt. Von britischer Seite habe es "keinerlei Bewegung" der festgefahrenen Verhandlungsposition gegeben, klagte EU-Vizekommissionschef Maros Sefcovic nach der jüngsten Gesprächsrunde vergangenen Freitag. Der britische Brexit-Unterhändler David Frost gab sich ungerührt: Wenn die Kommission dem Forderungspapier vom Juli Aufmerksamkeit schenke und "die Situation in Nordirland betrachtet", könne man "vielleicht" vorankommen.

Freilich klafft die Einschätzung der Lage vor Ort so stark auseinander wie seit vielen Jahren nicht mehr. Die protestantisch-unionistischen Parteien, angeführt von der schwer angeschlagenen DUP, haben sich vereint unter dem Slogan "Das Protokoll muß weg!" Dass dies automatisch Kontrollen an der irischen Landgrenze zur Folge hätte, nehmen sie in Kauf – ein Unding für die nationalistisch-katholischen Parteien, denen der Zusammenhalt mit dem Rest der eigenen Insel über die Staatsgrenze hinweg wichtiger ist als die Verbindung mit Großbritannien. Die konfessionsübergreifende Allianz-Partei setzt unverdrossen auf eine pragmatische Weiterentwicklung der Bestimmungen im Protokoll. (Sebastian Borger, 8.11.2021)