Keine Spur von Mief! Der blumig-pudrige Duft ist noch immer frisch. Dabei strömt er schon seit einem ganzen Jahrhundert durch die Lande. Die Rede ist vom wohl berühmtesten Parfum der Welt, das heuer seinen 100. Geburtstag feiert: Chanel Nº 5.

Die exakten Verkaufszahlen werden nicht veröffentlicht, doch Branchenkenner gehen von jährlich einer Million verkaufter Flakons aus. Das bedeutet, dass alle 30 Sekunden irgendwo auf der Welt einer über den Ladentisch geht. Die Duftkreation aus dem Jahre 1921 ist zum Inbegriff von Parfum geworden, überrascht und fasziniert noch immer.

"Es ist wahrhaftig ein Meisterwerk. Es müsste eigentlich zu Tode langweilen, weil man es so oft riecht. Aber überraschenderweise ist es immer wieder schön", sagt Andrea Schaffner-Dittler voll des Lobes.

Man könnte fast meinen, hier komme eine Chanel-Mitarbeiterin zu Wort, doch Schaffner-Dittler ist völlig unabhängig, arbeitet als Kunsthistorikerin und Duftexpertin. Über 1600 Parfums umfasst ihre Sammlung. Natürlich ist auch Chanel Nº 5 dabei, das Schaffner-Dittler als "strahlend helles Parfum mit leicht launischer, dunklerer Basis" beschreibt. Es sei ein smarter Duft mit hohem Wiedererkennungswert, selbstbewusst, graziös, sexy und cool, sinnlich, ohne dabei dekadent zu wirken, so die Expertin.

Die Duftkreation aus dem Jahre 1921 ist zum Inbegriff von Parfum geworden, überrascht und fasziniert noch immer.
Foto: Chanel

Komposition

Das Besondere an Chanel Nº 5 ist, dass es nicht, wie 1921 üblich, als singulärer Duft erkennbar ist – zum Beispiel Rose. Es handelt sich um eine abstrakte Komposition von über 80 Komponenten. Außerdem ist es eines der ersten Parfums, bei dem Aldehyde zum Einsatz kommen.

Diese synthetischen, duftenden Moleküle sind in der Kopfnote von Chanel Nº 5 sehr stark dosiert. Der erste olfaktorische Eindruck umfasst noch Bergamotte, Neroli und zitrische Aromen. Danach kommen in der Herznote Mairosen, Jasmin, Iriswurzel, Maiglöckchen und Ylang-Ylang. Am Schluss entfaltet sich die Basisnote aus ambriertem Sandelholz, Vanille und Vetiver.

Die originale Formel dieses Duftes stammt von Ernest Beaux. Er war der ehemalige Hofparfümeur der russischen Zarenfamilie, zu der auch Dmitri Pawlowitsch Romanow gehörte. Dieser hatte eine Affäre mit Coco Chanel, und so lernte Ernest Beaux die Pariser Modemacherin kennen und erhielt den Auftrag, ein Parfum für sie zu kreieren. Beaux präsentierte ihr zehn verschiedene Versionen, Chanel entschied sich für die Nummer 5, der Rest ist Geschichte.

In seinem Buch Der Duft der Imperien stellt Osteuropahistoriker Karl Schlögel die These auf, die beiden Parfums Chanel Nº 5 von Ernest Beaux und Rotes Moskau von Auguste Michel hätten dieselbe Urformel – eine Duftkreation anlässlich des 300. Thronjubiläums der Zarenfamilie Romanow 1913. Manche Historiker bezweifeln, dass Chanel Nº 5 und Rotes Moskau tatsächlich auf derselben Ursprungsformel basieren. Beweisen oder widerlegen lässt sich das Ganze jedoch nicht.

Rotes Moskau wurde 1954 grundsätzlich verändert, und es sind so gut wie keine Proben des Originals erhalten. "Heute haben die beiden Parfums nichts miteinander zu tun", sagt auch Andrea Schaffner-Dittler. Dafür sei aus Chanel Nº 5 ein ganzes Duftgenre hervorgegangen.

Mittlerweile könne man die Bestandteile von Parfums mithilfe eines Gaschromatografen einfach bestimmen, so die Expertin, aber damit nicht automatisch ein Duplikat erzeugen: "Chanel Nº 5 ist viel mehr als die Summe seiner Teile."

Qualitätssicherung

Chanel Nº 5 hat sich in 100 Jahren aber auch verändert. Das Original "Extrait" beschreibt Schaffner-Dittler als üppig und aromatisch. Es enthalte am meisten Aldehyde unter allen Versionen. 1952 kam das Eau de Toilette auf den Markt. Es stammt von Henri Robert und zeichnet sich laut Schaffner-Dittler durch stärkere Zitrusnoten und eine größere Sillage, die Duftwolke um die Trägerin, aus. "Wenn wir an Chanel Nº 5 denken, haben wir das Eau de Toilette in der Nase."

1986 kreierte Jacques Polge das Eau de Parfum. Es liege zwischen den beiden Vorgängern und erinnere leicht an Pfirsich, so die Expertin. Die Veränderungen in der Komposition seien neben dem jeweiligen Zeitgeist auch den verwendeten Rohstoffen geschuldet. "Echtes Sandelholz zum Beispiel steht mittlerweile unter Artenschutz, man muss auf Alternativen zurückgreifen", sagt Schaffner-Dittler.

Chanel reserviert sich zwar seit 34 Jahren die gesamte Ernte von Familie Mul, die in Grasse Mairosen und Jasmin ökologisch anbaut. Der Ertrag reicht aber bei weitem nicht aus, weiß Schaffner-Dittler: "Weltweit können jährlich insgesamt rund 400 Tonnen an echtem Rosenöl produziert werden. Selbst wenn Chanel die gesamte Menge aufkaufen würde, kann das den Bedarf für Nº 5 nicht decken."

Aber auch bei synthetischen Ersatzprodukten achte man auf hohe Qualität. So arbeite man um Einschränkungen herum, ohne das Dufterlebnis zu kompromittieren. Es ist also durchaus möglich, dass Chanel Nº 5 noch weitere 100 Jahre als Inbegriff des Parfums gilt. (Michael Steingruber, RONDO exklusiv, 14.12.2021)