An der Grenze gehen die polnischen Einheiten immer härter gegen die Flüchtlinge vor. Dem belarussischen Regime wird vorgeworfen, die Menschen absichtlich an die Grenze zu bringen.

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Warschau –Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki sieht die EU durch den Andrang tausender Migrantinnen und Migranten an der Grenze zu Belarus (Weißrussland) in Gefahr. "Heute steht die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU auf dem Spiel", erklärte Morawiecki am Dienstag auf Twitter. Die EU setzte als Reaktion auf die Lage ein Abkommen über Visa-Erleichterungen mit Belarus in Teilen aus.

Die EU-Länder Polen, Lettland und Litauen meldeten in den vergangenen Monaten tausende illegale Grenzübertritte aus Belarus. Am Montag teilte ein Sprecher der polnischen Regierung mit, 3.000 bis 4.000 Personen hätten sich nahe der polnischen Grenze versammelt. Die EU wirft dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vor, Menschen aus dem Nahen Osten absichtlich nach Belarus und an die Grenze zur EU bringen zu lassen.

EU vermutet Vergeltung als Motiv

"Die Abriegelung der polnischen Grenze ist unser nationales Interesse", erklärte Morawiecki. Doch "dieser hybride Angriff des Regimes von Lukaschenko richtet sich gegen uns alle". Polen werde sich nicht einschüchtern lassen und "den Frieden in Europa gemeinsam mit unseren Partnern aus Nato und EU verteidigen".

Die EU vermutet, Lukaschenko wolle mit seinem Vorgehen Vergeltung für Brüsseler Sanktionsbeschlüsse üben. Die EU hatte die Sanktionen in Reaktion auf die Niederschlagung der gegen Lukaschenko gerichteten Demokratieproteste verhängt, die nach dessen umstrittener Wiederwahl im August 2020 eingesetzt hatten.

EU setzt Visa-Erleichterungen teils aus

Als Reaktion auf den "laufenden hybriden Angriff" setzt die EU bisher geltende Visa-Erleichterungen für "Amtsträger des belarussischen Regimes" aus. Für sie wird es künftig aufwendiger und teurer, ein Visum für die Einreise in die EU zu bekommen. Gewöhnliche belarussische Staatsbürger betrifft der Beschluss nicht. Er wird nun im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt zwei Tage später in Kraft. Das fragliche Abkommen gilt erst seit Juli 2020. Der Schritt war Ende September von der EU-Kommission im Konflikt um mutmaßlich gesteuerte Migration über Belarus vorgeschlagen worden.

"Wir verurteilen die laufende Instrumentalisierung der Migration durch das belarussische Regime aufs Schärfste und lehnen sie entschieden ab. Es kann nicht hingenommen werden, dass Belarus für politische Zwecke mit dem Leben von Menschen spielt", sagte der slowenische Innenminister Aleš Hojs im Namen des derzeitigen EU-Ratsvorsitzes.

Grenzübergang geschlossen

Belarus wies am Dienstag internationale Anschuldigungen zurück. Staatsmedien in Minsk veröffentlichten zudem Fotos und Videos von Menschen, die sich um Lagerfeuer versammelten, und von Kindern, die in Schlafsäcken auf dem Boden in dem Waldgebiet lagen. "Wir möchten die polnische Seite im Voraus davor warnen, beliebige gegen die Republik Belarus gerichtete Provokationen zu nutzen, um mögliche illegale Militäraktionen gegen benachteiligte unbewaffnete Menschen (...) zu rechtfertigen", heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Mitteilung des Außenministeriums in Minsk.

Polen hatte am Dienstag wegen der angespannten Situation den Grenzübergang Kuźnica zu Belarus geschlossen. Reisende werden gebeten, auf benachbarte Übergänge in Terespol und Bobrowniki auszuweichen. Der Grenzverkehr für Waren und Personen am Übergang Kuźnica sei wie angekündigt seit sieben Uhr eingestellt, bestätigte eine Sprecherin des polnischen Grenzschutzes. Am Montag hatten laut polnischen Behörden größere Personengruppen auf der belarussischen Seite in der Nähe von Kuźnica vergeblich versucht, die Grenze zu durchbrechen.

Tränengaseinsatz in litauischem Lager

Litauen, das im Norden an Belarus grenzt, wollte am Dienstag angesichts der zugespitzten Lage für einen Monat den Ausnahmezustand in der Grenzregion verhängen. Die Regierung des EU-Landes legte dem Parlament am Dienstag einen entsprechenden Beschluss vor. Das Kabinett folgte damit einem Vorschlag von Innenministerin Agnė Bilotaitė. Der Ausnahmezustand soll demnach ab Mitternacht entlang der Grenze zu Belarus und fünf Kilometer landeinwärts gelten sowie in den Migrantenunterkünften in Kybartai, Medininkai, Pabradė, Rukla und Vilnius. Dort kam es am Montag zu Unruhen – in einem Lager wurde Tränengas eingesetzt.

Linhart spricht von "Erpressung"

Österreichs Außenminister Michael Linhart (ÖVP) bezeichnete das Vorgehen von Belarus am Dienstag als "Menschenrechtsverletzung und Erpressung". Österreichs volle Solidarität gelte Polen und Litauen als leidtragenden Staaten. "Wir müssen als Europäische Union zusammenstehen und uns entschlossen zur Wehr setzen. Das wird auch gezielte Maßnahmen gegen die Verantwortlichen in Minsk beinhalten", betonte er.

Linhart begrüßte gleichzeitig die Reise von EU-Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas in Herkunftsländer und Transitländer der Flüchtlinge. "Wir müssen die Menschen, die sich hier freiwillig in Geiselhaft eines totalitären Regimes begeben, davor warnen, sich auf den Weg zu machen. Sie werden als namenlose Masse in einem zynischen Spiel missbraucht", erklärte der österreichische Außenminister, der sich derzeit auf Reisen in Zentralasien befindet.

ÖVP fordert Außengrenzschutz

Europa dürfe sich nicht von Lukaschenko mit "absichtlich herbeigeführten Migrantenströmen" erpressen lassen, erklärte am Dienstag auch Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). "Die EU-Kommission muss Polen bei der Sicherung der EU-Außengrenze unterstützen und die nötigen Mittel für die Errichtung eines robusten Grenzzaunes bereitstellen", betonte er. Hilfe bei der Registrierung von Migranten anzubieten sei hingegen das völlig falsche Signal, kommentierte Nehammer. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) betonte, dass es einen "gemeinsamen EU-Außengrenzschutz" brauche.

Die österreichische Europa-Abgeordnete Claudia Gamon (Neos) forderte ihrerseits eine sofortige Lösung für die Menschen in den betroffenen Gebieten. Menschen, die ohne jede Versorgung an der Grenze verharren, müssten eine adäquate Unterbringung und ein faires Verfahren bekommen. Polen müsse in dieser Frage endlich europäische Unterstützung annehmen und aufhören, mit dem Schicksal dieser Menschen politische Taktik zu betreiben, kritisierte Gamon.

SPÖ will tragfähige gemeinsame Lösung in EU

Der europapolitische Sprecher der SPÖ im Nationalrat, Jörg Leichtfried, forderte eine umgehende Krisensitzung der EU-Außenminister. "So kritisch wir gegenüber der polnischen Regierung in vielen Politikbereichen sind, so darf sich die EU jetzt nicht auseinanderdividieren lassen, sondern muss den Erpressungsversuchen Lukaschenkos entgegentreten", erklärte er in einer Aussendung. Bei Asyl und Migration müsse man endlich weg von Symptombekämpfung und hin zu tragfähigen gemeinsamen Lösungen und einer konstruktiven Kooperation auch mit Staaten wie der Ukraine oder Georgien, kommentierte er.

Die europapolitische Sprecherin der FPÖ im Nationalrat, Petra Steger, urgierte wiederum einen Stopp der Polen vom Europäischen Gerichtshof auferlegten Strafzahlungen in der Höhe von einer Million Euro täglich. "Es ist nämlich absurd, wenn die EU Polen diese Gelder streicht, aber dann von den Polen erwartet, dass diese ihre Grenzen ordentlich schützen", erklärte sie. Anlagen zum Schutz der EU-Außengrenze gegen illegale Massenzuwanderung seien gerade jetzt notwendig und sehr sinnvoll, erläuterte sie. (APA, 9.11.2021)