Wenig Einwände gegen drakonische Strafen gibt es bei Singapurs Höchstgericht (Bild rechts oben).

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Es ist ein Satz, den man nicht alle Tage hört. "Covid hat meinem Mandaten erlaubt zu leben", sagte Ravi Madasamy am Dienstag der Agentur Reuters. Der Mandant, das ist Nagaenthran Dharmalingam, der in Singapur 2010 wegen Drogenschmuggels zum Tod durch Hängen verurteilt worden war. Weil Nagaenthran einen IQ von nur 69 hat, attestierte ihm ein Gutachter eine geistige Beeinträchtigung. Das Urteil und seine angekündigte Vollstreckung lösten heftige Proteste aus – großteils außerhalb Singapurs, teils aber auch innerhalb des wohlhabenden Stadtstaates am Äquator. Dieser hatte bisher dennoch auf einer Exekution am 10. November bestanden. Nun zu vertagen entspreche unter anderem dem "Hausverstand", so das Gericht.

Nagaenthran war 2009 mit 42 Gramm Heroin aufgegriffen worden, kurz nachdem er die Grenzbrücke von Malaysia nach Singapur überquert hatte. In Singapur wurde die Einfuhr von 15 Gramm Heroin und mehr per Gesetz zum Zeitpunkt des Verbrechens und des Prozesses mit einer verpflichtenden Todesstrafe sanktioniert (Gleiches galt ab 30 Gramm Kokain und ab 500 Gramm Cannabis). Mittlerweile ist die Pflicht dazu in bestimmten Fällen weggefallen. Ähnlich drakonische Drogengesetze gibt es auch in anderen Staaten der Region, weltweit kennen 35 Staaten die Todesstrafe für Drogenvergehen. Vollstreckt wurden solche Urteile im Jahr 2020 etwa im Iran, in China und in Saudi-Arabien.

Taten verstanden

Derartige Bestrafungen sind für sich genommen bereits Gegenstand heftiger Kritik von Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtlern – besondere öffentliche Aufmerksamkeit bekommen sie meist dann, wenn Staatsbürger westlicher Länder verurteilt oder exekutiert werden. Die Kritik am Falle Nagaenthran bezieht sich allerdings auf einen anderen Punkt. Der Malaysier ist nach Aussagen von Gutachtern geistig beeinträchtigt und hat einen IQ von nur 69. In vielen Staaten würde das eine Strafmilderung ermöglichen, so auch etwa in Österreich, wo "geminderte Intelligenz" zwar nicht im Sinne einer geistigen Behinderung behandelt wird, aber dennoch niedrigere Strafen ermöglicht, weil Täter den vollen Umfang ihrer Tat nicht verstehen können oder ihre Hemmschwelle herabgesetzt ist.

Die Anklage in Singapur argumentierte hingegen, Nagaenthran habe trotz seiner eingeschränkten Intelligenz verstanden, dass das, was er tat, nicht legal war. Dem Malaysier hatte auch nicht geholfen, dass er seine Verteidigungslinie mehrfach geändert hatte. Zu Beginn hatte er noch angegeben, das Leben seiner Familie sei bedroht worden – man habe ihn daher dazu gezwungen, die Drogen nach Singapur zu schmuggeln. Später sagte er, er habe das Geld gebraucht, um Schulden abzubezahlen. Auch ein kürzlich verfasstes Gnadengesuch zur Umwandlung in eine lebenslange Haftstrafe wurde abgewiesen. Sie wäre mit der Verhängung einer Strafe von dutzenden Stockschlägen verbunden gewesen, die in Singapur zur Abschreckung vor Verbrechen noch immer im Gesetzbuch steht und auch regelmäßig zur Anwendung kommt.

Kritik auch im Inland

Der Fall hat auch in Singapurs sonst gut gelenkter Demokratie für Aufsehen gesorgt. Rund 60.000 Menschen haben in dem Stadtstaat mittlerweile eine Petition unterzeichnet, in der ein Verzicht auf die Exekution gefordert wird. In einem Staat, in dem sowohl die Regierung als auch die Verhängung der Todesstrafe sonst wenig Kritik aus der Bevölkerung erfahren, ist das beachtlich. Auch einigen internationalen Druck auf die Regierung Singapurs hatte es gegeben.

Diese hatte zuletzt eigentlich Fortschritte beim Kampf gegen die Todesstrafe möglich erscheinen lassen. Im Jahr 2012 wurden alle Exekutionen vorübergehend ausgesetzt, während die Ausnahmen von verpflichtenden Todesstrafen in bestimmten Fällen debattiert wurden. Später wurde sie wieder in Kraft gesetzt. So wurden im Jahr 2020 in Singapur wegen Corona keine Menschen hingerichtet. Allerdings sorgt ein Fall für Aufsehen, in dem ein Drogendealer in einer Zoom-Verhandlung zum Tode verurteilt worden ist. Auch hier war die Pandemie der Grund. (Manuel Escher, 9.11.2021)