Frage: Wohin wollen die Menschen, die da gerade an der belarussisch-polnischen Grenze festsitzen?

Antwort: So wie auch 2015 im Falle Ungarns dürften die meisten nicht in Polen bleiben wollen, sondern weiter in westlichere EU-Länder reisen. Am Montag gingen die "Germany"-Sprechchöre einiger Wartender im nasskalten belarussischen Wald um die Welt.

Migranten und Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze am 9.11.2021.
Foto: imago images/SNA

Auch wenn das tatsächliche Ziel der Geflüchteten natürlich schon mangels Asylverfahren kaum zu eruieren ist, gibt es Hinweise: Die deutsche Polizei registrierte in diesem Jahr schon mehr als 6.000 illegale Einreisen an der Oder-Neiße-Grenze durch Menschen, die zuerst in Belarus waren.

Frage: Um wie viele Menschen handelt es sich?

Antwort: Genaue Zahlen gibt es nicht. Der polnische Regierungssprecher Piotr Mueller sprach am Montag von 3.000 bis 4.000 Menschen, die derzeit gegenüber der polnischen Ostgrenze ausharren. Mindestens acht Menschen sind angesichts der hygienischen Bedingungen und der sinkenden Temperaturen dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR zufolge bereits gestorben.

Allein am Montag erreichte laut Berichten ein Zug von 1.000 Personen, eskortiert von belarussischen Sicherheitskräften auf der Autobahn M6, die Grenze nahe dem polnischen Kuźnica Białostocka. Weil täglich neue Migrantinnen und Migranten in dem autoritär regierten Land ankommen, herrscht über die genaue Zahl aber Ungewissheit. Im gesamten Jahr 2021 registrierte Polen, das von den Migrationsströmen aus dem Nahen Osten und Afghanistan seit 2015 bis dahin weitgehend unberührt blieb, insgesamt mehr als 30.000 illegale Übertritte. Allein im Oktober waren es 17.000 Menschen, die von Belarus nach Polen kamen.

Frage: Wie sind die Menschen, die jetzt versuchen, in die EU einzureisen, überhaupt nach Belarus gelangt?

Antwort: Der Westen wirft dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko mehr oder weniger offene Schlepperei vor – und meint damit etwa das großzügige Visa-Regime für Menschen aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan, mit dem Minsk in diesen Ländern gezielte Angebote zur Reise an die EU-Außengrenze streut. Bis zu 40 Direktflüge aus Istanbul, Damaskus und Dubai landen derzeit Woche für Woche auf dem Minsker Flughafen, andere reisen mit Zwischenstopps an.

Der Irak, aus dessen nördlicher Kurdenregion Berichten zufolge die meisten Betroffenen kommen, hat im August auf Druck der EU die Direktflüge Bagdad–Minsk eingestellt. Doch sollen sich auch Menschen aus afrikanischen Ländern wie dem Kongo oder Nigeria unter den Wartenden in Belarus wiederfinden. Der Preis für die staatlich organisierte Schleppung ist stolz: Zwischen 12.000 und 15.000 Euro müssen dafür berappt werden – und das freilich ohne jede Garantie, tatsächlich jemals EU-Territorium zu erreichen.

Frage: Warum macht der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko das?

Antwort: Polen und andere EU-Länder werfen dem Machthaber in Minsk vor, gezielt eine neue Migrationskrise in Europa provozieren zu wollen, um der Union ihre Sanktionen gegen sein Regime heimzuzahlen. Die EU und einige westliche Länder hatten nach der offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahl 2020 und der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs mit einem prominenten Regimekritiker an Bord im Mai Strafmaßnahmen gegen die Minsker Führung beschlossen.

Frage: Wie reagiert Polen?

Antwort: Bisher gibt sich die nationalkonservative und höchst EU-kritische PiS-Regierung martialisch, was den Schutz der polnischen Ostgrenze betrifft. Der stellvertretende Verteidigungsminister Piotr Wawrzyk warf dem Nachbarland am Montag vor, einen "großen Zwischenfall" zu provozieren, indem belarussische Truppen Schüsse abgeben. Sein Chef, Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak, sprach von 12.000 Soldaten, die "die Grenze verteidigen". Regierungschef Mateusz Morawiecki erklärte auf Twitter, die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU stehe angesichts des "hybriden Angriffs" durch Lukaschenko auf dem Spiel. Dieser wies die Vorwürfe umgehend zurück.

Polnische Truppen ihrerseits setzen Berichten zufolge Tränengas ein, um die Menschen vom Grenzzaun fernzuhalten. Weder die EU-Grenzschutzagentur Frontex oder die Asylbehörde Easo noch die Polizeibehörde Europol haben Zugang zu Polens Grenzgebiet – trotz wiederholter Hilfsangebote Brüssels an Warschau. Stattdessen hat das Parlament in Warschau Ende Oktober den Bau einer 353 Millionen Euro teuren und 100 Kilometer langen Befestigung an der Grenze zu Belarus beschlossen.

Frage: Welche Rolle spielt Russland?

Antwort: Offiziell mischt sich Russland, mit dem Belarus in einer bisher eher losen Union verbunden ist, in den Konflikt nicht ein. Am Dienstag äußerten sich Präsident Wladimir Putin und sein Verbündeter Lukaschenko unisono besorgt über den polnischen Truppenaufmarsch an der Grenze. Schuld an der Situation trage der Westen, der laut Außenminister Sergej Lawrow in Staaten wie Afghanistan und Irak Chaos gestiftet und so die Menschen zur Flucht gezwungen habe. (FRAGE & ANTWORT: Florian Niederndorfer, 9.11.2021)