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Die Ermittlungen gegen Sebastian Kurz (ÖVP) brachten bei der APA die meisten "Unschuldsvermutungen".

Foto: REUTERS/Leonhard Foeger

Ein im Kern antikes Rechtsprinzip hat in Österreich gerade Hochkonjunktur. Dass mangels Schuldbeweises der Angeklagte im Zweifel (noch) nicht verurteilt werden solle ("in dubio pro reo"), war schon Bestandteil des römischen Rechts, fand in Form der "Unschuldsvermutung" zuletzt aber gehäuft in hiesigen Medien Gebrauch.

Mit dem meist in der Wortverbindung "Es gilt die Unschuldsvermutung" vorkommenden Ausdruck wollen Journalisten und andere öffentliche Kommunikatoren einerseits der Rechtsprechung der Gerichte nicht vorgreifen, andererseits aber auch sich selbst absichern. Denn der Vorwurf einer strafbaren Handlung, ohne sie beweisen zu können, kann für den Verantwortlichen bald in einer Geld- oder Haftstrafe enden.

Tausende Unschuldsvermutungen

Die momentane Ballung ist wenig überraschend den Untersuchungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) gegen das Umfeld und die Person des früheren Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) geschuldet. Als die Medien nach den Razzien und dem Bekanntwerden der Ermittlungen am 6. Oktober begannen, über die Verdachtslagen der Bestechung, Bestechlichkeit und Untreue zu berichten, war in jeder Nachrichtenmeldung eine "Unschuldsvermutung" geboten.

Zwischen Jänner 2000 und Oktober 2021 gab es 3.980 Meldungen der Austria Presse Agentur (APA), in denen der Begriff "Unschuldsvermutung" zumindest einmal vorkam. Der Tag mit den überwiegend meisten Meldungen war jener nach Veröffentlichung der Pressemitteilung der WKStA in der Causa Kurz.

Ganze 21-mal sahen sich die Kollegen der APA am 7. Oktober 2021 veranlasst, von der Schuldlosigkeit der Verdächtigen auszugehen. Der 8. Oktober 2021 landet in der Auswertung mit 16 Meldungen auf Rang zwei. Erst danach findet sich mit zwölf Meldungen am 2. April 2009 ein Tag ohne Korruptionsvorwürfe im ÖVP-Umfeld – es handelt sich um den Tag nach der Festnahme des Bankers Julius Meinl V. unter anderem wegen des Verdachts auf schweren Anlegerbetrug. (Meinl wurde zwei Tage später gegen eine Rekordkaution von 100 Millionen Euro freigelassen und das Verfahren nach jahrelangem Rechtsstreit 2018 ohne Anklage eingestellt.)

Dahinter folgen der 12. Februar 2021 (Hausdurchsuchungen bei Finanzminister Gernot Blümel) und der 2. September 2010 (erste gerichtliche Vernehmung von Ex-Finanzminister Karl-Heinz Grasser in der Causa Buwog) mit jeweils neun Meldungen.

Noch acht tägliche Nachrichten sammelten sich am 13. November 2007 (verschiedene Fälle), am 5. Oktober 2009 (Buwog-Ermittlungen) und am 1. März 2019 (Anklagen gegen mehrere Bankmanager in der Causa Bawag/Refco) an. An weiteren 2.463 Tagen seit Anfang 2000 wurden mindestens eine und höchstens sieben Meldungen mit dem Begriff "Unschuldsvermutung" publiziert; an 5.504 Tagen gab es keinen einzigen derartigen Bericht.

Rekordmonat seit Jahrtausendbeginn

Die Monatsübersicht zeigt, dass der vergangene Oktober mit 71 einschlägigen Meldungen tatsächlich Rekordhalter in diesen bald 22 Jahren war. Während es von Monat zu Monat teils starke Schwankungen gibt, zeugen ein Anstieg von Mitte der 2000er-Jahre bis zum Höhepunkt um 2010 und ein darauffolgender Rückgang bis Mitte der 2010er-Jahre auch von längerfristigen, strukturellen Wellen.

Zurückzuführen ist das auf eine Reihe von White-Collar-Kriminalfällen, die in dieser Zeit in Österreich gehäuft bekannt oder verhandelt wurden. Einige davon wurden bei der Auflistung der Rekordtage bereits genannt: In den drei Jahren mit den meisten Nennungen, also von 2009 bis 2011, enthielten besonders viele Meldungen gleichzeitig das Wort "Unschuldsvermutung" und jeweils Buwog (195 Meldungen), Immofinanz (142), Meinl (125), Hypo (109), Telekom (64), Bawag (53), Constantia (46), AVW (36) oder Libro (31). Mehrfachzählungen sind hier möglich, weil die Fälle teilweise verflochten waren – so wurde etwa gegen Immofinanz als erfolgreichen Bieter in der Buwog-Affäre, aber auch unabhängig wegen Bilanzfälschung und verschwundener Multimillionenkredite ermittelt.

Nach dieser Hochphase griffen die APA-Journalisten nur mehr selten auf den Begriff "Unschuldsvermutung" zurück – bis Ende der 2010er-Jahre wieder ein Anstieg zu beobachten war, der 2021 in der Causa Kurz (vorerst) kulminierte. (Michael Matzenberger 11.11.2021)