An den EU-Außengrenzen zu Belarus spielen sich ein humanitäres Drama und ein politisch-völkerrechtlicher Skandal ab. Das betrifft Polen, zunehmend auch Litauen, Lettland, die ganze baltische Region – und Richtung Westen Deutschland als Zielland.

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Tausende Migrantinnen und Migranten müssen derzeit an der belarussisch-polnischen Grenze in den Wäldern übernachten. Sie werden so zum Spielball politischer Interessen.
Foto: AP / Leonid Shcheglov

Die Europäische Union kann nicht direkt eingreifen. "Die Kommission hat keine Macht zu überprüfen, ob es an den Grenzen Pushbacks gibt", also ein Zurückschieben von Menschen auf belarussisches Gebiet gegen ihren Willen, die in Europa um Asyl anzusuchen wollen. Das wäre nach EU-Recht illegal.

Angesichts der TV-Bilder von hunderten verzweifelten Migranten, deren Flucht vom Regime des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko per Charterflügen via Minsk unterstützt, wenn nicht gar organisiert wird, wie europäische Geheimdienste sagen, fragen sich immer mehr EU-Bürger, warum Brüssel nichts unternimmt.

Genau das ist aber eben nicht so einfach, wie ein Sprecher der EU-Zentralbehörde am Dienstag bestätigte. Die EU hat keine eigenen Truppen, und ihre Beamten der Grenzschutzbehörde Frontex kann sie zur Kontrolle nur losschicken, wenn Regierungen der Nationalstaaten ausdrücklich darum bitten.

In Litauen, wo die Regierung den Notstand ausgerufen hat, ist das der Fall –in Polen aber nicht. Dort warnt zwar die Regierung vor einem "Krieg" Lukaschenkos gegen "die ganze EU" – aber sie lässt ihre Soldaten allein vorgehen. Tausende Migranten reisten seit Oktober nach Deutschland weiter. Innenminister Seehofer forderte die EU auf, der polnischen Regierung bei der Sicherung der Außengrenzen zu helfen.

Verschärfung von Sanktionen

So kann die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten vorläufig nur tun, wozu sie die Mittel hat. So rasch wie möglich sollen nun die gegen das Lukaschenko-Regime vor einem Jahr begonnenen Sanktionen verschärft werden. Ein Abkommen über Visa-Erleichterungen wurde wieder ausgesetzt, "Amtsträger" aus Belarus, nicht aber Oppositionelle sollen nun gesperrt werden von Einreisen in die EU.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow zündelt dazu und gibt dem Westen die Schuld an der Lage. EU und Nato hätten im Nahen Osten über Jahre versucht, den Menschen ihr Leben aufzuzwingen, in Afghanistan und im Irak Chaos gestiftet.

Die EU will den Flugverkehr nach Belarus überprüfen, der tausende Migranten aus den Krisengebieten nach Europa bringt (siehe Frage & Antwort), und das unterbinden. Aber das löst nicht die aktuelle Situation an der polnisch-belarussischen Grenze.

Offenbar kann ein Funke genügen, um ein Feuergefecht auszulösen. Angeblich schießen belarussische Sicherheitskräfte immer wieder in Richtung Polen. Ein anonymes Video mit Schussgeräuschen und nicht zu identifizierenden belarussischen Stimmen, das in polnischen Internet kursiert, verdeutlicht das. Es stammt aus dem Telegram-Kanal, in dem auch Oppositionelle aus Belarus publizieren.

Sperrzone

Doch ob an der Grenze wirklich scharf geschossen wird, lässt sich objektiv nicht überprüfen, da Polens regierende Nationalpopulisten von der Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Grenzregion zur Sperrzone erklärt haben. Dort haben Ortsfremde – darunter Journalisten, Ärzte, Asyl-Anwälte sowie humanitäre Organisationen – keinen Zutritt. Für die PiS kommt die Eskalation der Flüchtlingskrise an der Grenze wie gerufen. Denn nun kann die Partei "Polen verteidigen", wie es im PiS-kontrollierten Staatsfernsehen heißt.

Polnischer Soldat an der Grenze zu Belarus.
Foto: EPA/LEONID SCHEGLOV/BELTA

Da ist von einer "Invasion aus dem Osten" die Rede, von Leuten, die im Geiste des sowjetischen Geheimdienstes "Attacken auf Polen "organisierten". Die PiS hat sich die Bilderhoheit gesichert. Die Fotos aus dem Helikopter vom angeblichen Massenansturm auf Polens Grenze machten Eindruck. Doch anders als 2015, als sich Hunderttausende auf den Weg machten, sind es auf der Fluchtroute über Belarus gerade mal ein paar Tausend.

Die Mehrheit der Polen will aber nach wie vor keine Flüchtlinge aufnehmen, zeigt eine Umfrage des Forschungsinstituts IBRIS. Immerhin über 80 Prozent möchte, dass die PiS-Regierung die EU um Hilfe bittet und so die moralische Verantwortung für die Geschehnisse an der Grenze geteilt werden kann. (Thomas Mayer aus Brüssel, Gabriele Lesser aus Warschau, Birgit Baumann aus Berlin, 9.11.2021)