Eine Grenze ist längst überschritten: die der Menschlichkeit, des Anstands, ja der Selbstachtung eines Staates. Wenn Belarus gezielt Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak ins Land lockt, um an seiner Westgrenze den Migrationsdruck auf die EU zu erhöhen, dann ist der Gipfel des Zynismus wohl erreicht.

Menschen als "lebende Schutzschilde" – das kennt man aus vielen Konflikten. An der Grenze von Belarus zu Polen, Litauen und Lettland jedoch werden Flüchtlinge zu unbewaffneten Söldnern gemacht, deren Lohn nicht Geld ist, sondern die vage Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Im Grenzgebiet allerdings erwartet sie häufig nichts als Kälte und Hunger, der Pushback nach Belarus und manchmal sogar der Tod.

Flüchtlinge campieren an der Grenze von Belarus und Polen.
Foto: EPA/LEONID SCHEGLOV

Man kann die Situation immer weiter durchdenken und stößt auf immer weitere abstoßende Details. Dass etwa Alexander Lukaschenko, der Machthaber in Minsk, nach eigenem Bekunden die Menschen auf ihrem Weg in den "gemütlichen Westen" nicht aufhalten will, ist auch das ungenierte Eingeständnis, dass in seinem eigenen Staat ohnehin niemand bleiben will. Es ist die Selbstdefinition als Diktatur, die gar nichts anderes sein kann als eine Durchgangsstation für Verzweifelte.

Vor allem aber zeugt es von mitleidloser Genugtuung darüber, dass diese Verzweifelten meist nicht willkommen sind – ausgerechnet in jenem "gemütlichen Westen", der sich in Lukaschenkos Augen moralisch überlegen gibt, durch das Zurückdrängen Geflüchteter aber seine eigenen Standards allzu rasch buchstäblich in den Morast tritt.

Migranten als Spielbälle

Gerade deshalb darf sich weder Polen, wo besonders viele Menschen ankommen, noch die EU von Lukaschenko in einen Wettkampf drängen lassen, in dem Migrantinnen und Migranten als Spielbälle zwischen beiden Seiten hin- und hergestoßen werden. Voraussetzung dafür ist, dass Warschau und Brüssel über ihre aktuellen Konflikte hinwegsehen und diesmal an einem Strang ziehen. Die Sprachlosigkeit infolge des Streits um Rechtsstaatlichkeit muss an dieser Stelle enden. Lukaschenkos Politik zielt darauf ab, sich für die gemeinsamen EU-Sanktionen gegen sein Regime zu revanchieren. Und die Grenze Polens zu Belarus ist die gemeinsame Außengrenze der EU. All das erfordert auch gemeinsame Antworten.

Für schwierige geopolitische Konflikte gibt es keine simplen Ad-hoc-Lösungen. Wenn die EU nun über ein erweitertes Sanktionsregime gegen Lukaschenko verhandelt, wird Polen mit den anderen an einem Tisch sitzen. Gleichzeitig aber gibt es in den schlammigen Wäldern in Europas Norden ein akutes Problem, das ebenfalls nicht durch Abschottung nach innen und außen gelöst werden kann. Im Gegenteil: Menschen sterben, die Lage kann jederzeit eskalieren. Die Abriegelung der Grenzregion, die die Hilfsorganisationen an der Arbeit hindert und dafür sorgt, dass Pushbacks und die humanitäre Misere vor Ort nicht dokumentiert werden können, trägt rein gar nichts zur Entspannung bei.

Alle in der EU sollten sich nun um bestmögliche Zusammenarbeit und größtmögliche Transparenz bemühen. Gerade wenn die Tragödie besonders groß ist, muss alles ans Tageslicht. NGOs, Medien und europäische Institutionen müssen ihre Arbeit tun können. Das geht nicht im Halbdunkel einer Sperrzone. Sonst gießt man am Ende lediglich Wasser auf Lukaschenkos Mühlen. (Gerald Schubert, 9.11.2021)