Beschäftigte im Gesundheitsbereich berichten in der Pandemie vermehrt von Schlafstörungen, Vergesslichkeit und Konzentrationsproblemen.

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Seit mehr als eineinhalb Jahren herrscht in Spitälern, Pflegeeinrichtungen und bei mobilen Diensten der Ausnahmezustand, nun spitzt sich die Lage mit österreichweiten Höchstwerten an Corona-Neuinfektionen weiter zu. Die "Offensive Gesundheit", eine Kooperation aus Ärztekammer Wien, Arbeiterkammer (AK) Wien sowie den Gewerkschaften im Gesundheitsbereich hat Beschäftigte im Gesundheitsbereich am Mittwoch um 12.05 Uhr – also "Fünf nach zwölf" – zu einer Protestaktion aufgerufen, in der die Arbeit für kurze Zeit niedergelegt wurde. Silvia Rosoli, Expertin für Gesundheits- und Pflegepolitik bei der AK Wien, erklärt, wie die psychische Belastung in Gesundheitsberufen zugenommen hat und wo die Politik nun handeln muss.

STANDARD: Die Zahl der Corona-Fälle steigt derzeit rasant. Wie sieht es in Spitälern und Gesundheitseinrichtungen aus?

Rosoli: Die Lage ist wirklich besorgniserregend, weil es zu wenig Personal gibt, um den Pflegebedarf und den medizinischen Bedarf sicherzustellen. Es geht nicht um den Mangel an Betten. Täglich werden Betten und ganze Stationen in der Langzeitpflege und in den Spitälern gesperrt, weil zu wenig Personal da ist, um die Intensivstationen oder auch Normalstationen zu bespielen. Und das ist nicht erst seit heute so, das Personal hat schon vor der Corona-Krise gefehlt – und die Pandemie verschärft den Mangel massiv.

STANDARD: Wie wirkt sich die Krise auf das Personal aus?

Rosoli: Wir wissen aus zahlreichen Umfragen, wie schwer belastet die Gesundheitsberufe derzeit sind. Die letzte haben wir im Sommer 2021 durchgeführt. Die Menschen sind nach mehr als eineinhalb Jahren Pandemie vor allem psychisch sehr belastet. Das führt dazu, dass der Beruf immer weniger attraktiv ist und die Menschen sich viel stärker mit dem Berufsausstieg beschäftigen, weil sie es einfach nicht mehr aushalten. Manchmal wechseln sie zuerst weg von der Intensivstation auf andere Stationen – oder sie verlassen gleich ganz den Beruf. Die Politik hat es verabsäumt, die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, Pflegheimen und mobilen Diensten zu verbessern, um mehr Menschen für die Pflege zu gewinnen, aber auch jene, die dort schon arbeiten, zu halten.

STANDARD: Mit welchen Problemen haben die Menschen in Gesundheitsberufen zu kämpfen?

Rosoli: Die Intensivstationen sind natürlich ein Hotspot und besonders belastet, aber die Belastung ist auch in allen anderen Bereichen ausgesprochen hoch. Viele Stationen müssen ja gesperrt werden, wenn Pflegepersonal beispielsweise in die Intensivstationen abgezogen werden muss. Die Krise führt bei den Menschen zu massiven Beeinträchtigungen wie Schlafstörungen, Vergesslichkeit oder auch Konzentrationsproblemen. Sogar im Sommer, also eigentlich in einer Verschnaufpause zwischen dritter und vierter Welle, haben die Menschen in diesen Bereichen angegeben, dass sie noch immer unter großem Druck arbeiten. Ein Viertel berichtete über Albträume und Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse während der Pandemie, es gibt eine Vielzahl von weiteren Depressions- und Angstsymptomen. Fast die Hälfte der Befragten hat Angst vor Panikattacken angegeben. Das sind ganz massive Probleme psychischer Art. Und all diese Belastungen sind potenzielle Risiken für die Versorgung der Patienten. Es ist notwendig, sich um das Personal, das noch da ist, zu kümmern und psychologische Entlastungsprogramme anzubieten. Man muss wirklich sagen: Beim Gesundheitspersonal brennt der Hut.

Silvia Rosoli ist Abteilungsleiterin für Gesundheitsberufe-Recht und Pflegepolitik bei der AK Wien.
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STANDARD: Was muss die Politik jetzt tun?

Rosoli: Die Corona-Krise ist wie ein Brennglas und verschärft die Situation immens. Und dennoch ist seitens der Politik nichts passiert. Die Pflegereform ist noch immer aufgeschoben, obwohl schon 2019 der zukünftige Personalbedarf in der Pflege bis 2030 auf zusätzlich rund 100.000 Menschen beziffert wurde. Die Materie ist natürlich komplex, aber Forderungen und Maßnahmen liegen längst vor, auch mit der Arbeitgeberseite gibt es kaum Dissens darüber, welche Verbesserungen es braucht. Für das Personal ist es wichtig, dass die Politik jetzt ins Handeln kommt. Denn die Pflegekräfte und Ärzte kommen gar nicht mehr zur Ruhe. Weil sie so wenige sind, müssen sie sogar in ihrer Freizeit für andere einspringen. Wir brauchen verbesserte Arbeitsbedingungen, eine Offensive in der Ausbildung und vieles mehr, die Liste ist lang. Denn man muss auch das bedenken: Wenn das Gesundheitssystem zusammenbricht, gibt es auch keine Basis mehr für eine gute Wirtschaft. Das hat die Pandemie klar gezeigt, aber ich habe das Gefühl, das ist in letzter Zeit wieder vergessen worden. (Davina Brunnbauer, 10.11.2021)