Wenn Archäologinnen und Archäologen Gräber aus der Völkerwanderungszeit (375/376 bis 568 n. Chr.) in Österreich ausgraben, finden sie neben den menschlichen Überresten der Begrabenen nur äußerst selten Reste von Kleidungsstücken. Textilien halten sich eben unter den meisten Umständen bei Weitem nicht so lange wie Gegenstände aus Metall oder Knochen, wie zum Beispiel Gürtelschnallen und Fibeln (Gewandschließen). Wenn man dann doch auf Textilien stößt, sind sie meistens kleinflächig und in einem schlechten Zustand. Trotzdem gibt es Möglichkeiten zu rekonstruieren, wie die Kleidung der damaligen Zeit ausgesehen haben könnte, wie wir im Projekt der "Prinzessin von Hauskirchen" zeigen.

Fotos: A. Schumacher
Experimentalarchäologische Rekonstruktion der Langobardenprinzessin.
Foto: A. Schumacher

Die Langobardenprinzessin in der Forscherbox

Einer der Forschungsschwerpunkte der Prähistorischen Abteilung ist die Textilarchäologie mit dem Ziel, technische, ökonomische und soziale Aspekte der Textilproduktion und Kleidung von der Steinzeit bis in die Neuzeit zu erforschen. Kleidung spielt eine wichtige Rolle in Gesellschaften der Vergangenheit, wie etwa in der Kommunikation der Identität. Um dies zu veranschaulichen, werden auch Rekonstruktionen der Kleidung hergestellt, die in diversen Aktivitäten mit Schulkindern, in Ausstellungen, historischen Modeschauen, Filmen und Medien eingesetzt werden. Bei der Rekonstruktion und der Verwendung der so entstandenen Gewandensembles können verschiedene Forschungsfragen beantworten werden, wobei allerdings auch ständig neue Fragen entstehen.

Im neuen interaktiven Raum Deck50 im Naturhistorischen Museum können Interessierte einen Einblick in die Forschung gewinnen und auch selbst etwas dazu beitragen. Eine der Stationen sind die Forscherboxen, bei denen archäologische Gräber in Miniaturform rekonstruiert wurden. Diese können dann von Besuchenden vor Ort ausgegraben und interpretiert werden. Nach der Freilegung des Grabes und der Lösung verschiedener Aufgaben, wird eine Rekonstruktion des oder der Bestatteten in seiner oder ihrer Kleidung gezeigt.

Eines dieser Gräber ist das der "Prinzessin von Hauskirchen" (Gänserndorf, NÖ), worin eine junge Frau mit zwei, reich mit goldverzierten Zäumungen ausgestatteten, (Zug-)Pferden im 6. Jh. n. Chr. bestattet wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit trug die Frau viele wertvolle Gegenstände, allerdings wurden diese bereits kurze Zeit nach der Bestattung aus dem Grab geraubt.

Die Quellen für die Rekonstruktion

Dass die Frau bei der Bergung keine metallenen Kleidungsbestandteile mehr bei sich trug, erschwerte die Rekonstruktion der Kleidung. Es mussten also möglichst zeitgenössische archäologische, aber auch bildliche und schriftliche Quellen herangezogen werden. Um für die Forscherboxen keine Verwirrung zu verursachen, verwendeten wir außerdem keine Schnallen oder Fibeln

In Maria Ponsee (Tulln, NÖ, 6. Jh. n. Chr.) war an einem Metall durch Korrosion ein sehr eindrucksvolles Fragment eines plissierten Stoffs aus einem langobardenzeitlichen Frauengrab erhalten. Es ist vermutlich der Rest eines Obergewandes aus feiner Wolle, das mindestens bis zum Oberschenkel der Frau reichte. Für ein plissiertes, das heißt in feine Falten gelegtes Gewand benötigt man etwa die dreifache Stoffmenge. Bedenkt man den großen Arbeitsaufwand, mit dem Textilien damals hergestellt wurden, steigert das den Wert des Kleidungsstücks erheblich. Nicht umsonst stammen die wenigen erhaltenen plissierten Textilien der Völkerwanderungszeit aus besonders reichen Gräbern. Ein derart wertvolles Gewand ist daher auch für die "Prinzessin aus Hauskirchen" passend.

Plissiertes Gewebe aus dem Grab von Maria Ponsee, 6. Jh. n. Chr.
Foto: A. Schumacher, NHM

Plissierte Stoffe sind auch aus bildlichen Quellen der Langobardenzeit, etwa auf dem "Altare del duca Ratchis", einem langobardischen Bildaltar aus dem 8. Jh. n. Chr., bekannt, die wir für die Rekonstruktion des Schnitts verwenden konnten. Gar nicht so einfach, denn die Bildkunst in Italien ist schon sehr stark von Byzanz und der römischen Tradition beeinflusst. Erst durch den Vergleich zeigen sich einige Elemente, die offenbar nicht auf byzantinische Vorbilder zurückgehen, sondern einer anderen, allem Anschein nach langobardenzeitlichen, Tradition entspringen. Hierzu gehören die gemusterten Borten an den Kleidersäumen, aber auch die knielangen, faltenreichen roten Gewänder der Engel, an denen wir uns orientieren konnten.

Auch die Borten mit einem Wellenmuster an den unteren Säumen der Kleidung wollten wir rekonstruieren. Wir gingen davon aus, dass diese brettchengewebt wurden, denn mit dieser Technik, die in Österreich mindestens seit der Mittelbronzezeit nachgewiesen ist, können vor allem Bänder mit diversesten Variationen diagonaler Motive gewebt werden und auch aus Maria Ponsee liegt ein kleines Fragment eines Gewebes in dieser Technik vor. Vermutlich wurde das dargestellte Muster im Relief aus technischen Gründen vereinfacht, aber da es unser bester Anhaltspunkt war, wollten wir es direkt übernehmen.

Von Schriftquellen und archäologischen Funden wissen wir außerdem, dass Frauen mehrere Kleidungsstücke übereinander trugen: Ein Schleier oder Schultertuch, ein Gürtel, an dem allerlei Gegenstände und Werkzeuge befestigt werden konnten, vielleicht auch noch ein Unterkleid und darunter eine sogenannte "fascia", eine Brustbinde. Zumindest die sichtbaren Kleidungsstücke – Schleier, Gürtel und Unterkleid – wollten wir daher auch zeigen.

Entwurf von Anna Zimmermann zur langobardischen Kleidung.
Foto: A. Zimmermann

Die Techniken in der Rekonstruktion

Unter dem Digital- und Rasterelektronenmikroskop konnten auf dem Textilrest aus dem Grab in Maria Ponsee wichtige Informationen über das Fasermaterial, Fadenstärke, Gewebedichte, Webbindung und Tiefe der Falten dokumentiert werden. Für die Rekonstruktion legten wir also einen feinen, leinwandbindigen Wollstoff von Hand in etwa sieben Millimeter tiefe Falten. Diese wurden im Abstand von einigen Zentimetern mit einem Faden fixiert. Anschließend wurde der Stoff zusammengerollt, umwickelt und über Dampf erhitzt. Nachdem er abgekühlt und über mehrere Tage getrocknet war, konnten die Fäden entfernt werden — die Falten hielten!

Vorgang des Plissierens: Jede Falte muss einzeln von Hand in den nassen Stoff gelegt und mit Fäden fixiert werden; der plissierte Stoff wird zusammengerollt und mehrere Stunden über Dampf erhitzt; der hohe Stoffverbrauch machte plissierte Kleidung besonders wertvoll.
Foto: A. Zimmermann

Nach der Abbildung der Engel auf dem "Altare del duca Ratchis" konstruierten wir einen Schnitt für ein knielanges Kleid mit unplissiertem Vorderteil und langen, schmalen Ärmeln.

Für die Borte in Brettchenwebtechnik haben wir ein Muster entwickelt und nachgewebt, das dem Relief sehr gut entspricht. Als Garn diente uns Wolle, die in Fadendurchmesser den Textilfunden der Zeit entspricht, um eine möglichst realistische Reproduktion einer solchen Borte zu erreichen. Die Färbung wurde nach Schriftquellen rekonstruiert. Für diese Technik wurden die Fäden durch jeweils vier Löcher 26 kleiner Webbrettchen gefädelt und zwischen zwei Fixpunkten gespannt — einer kann zum Beispiel ein Gürtel am eigenen Körper sein. Durch Vor- und Zurückdrehen der Brettchen verdrillen sich die Fäden und ergeben eine feine, diagonale Struktur, je nach Drehrichtung in "Z-" oder "S-"Richtung. Die Fäden der Brettchen haben außerdem zwei unterschiedliche Farben, damit ist es möglich, anhand systematischer Brettchendrehungen ein farblich abhebendes, diagonal glatt verlaufendes Muster zu weben.

Brettchenweben: der Webprozess der Borte, für den nur Brettchen, Garn und zwei Fixpunkte notwendig sind.
Foto: K. Saunderson

Ästhetisches Gesamtbild

Die Rekonstruktionen zeigen, dass man auch ohne metallene Bestandteile — nur mit Textilien — ein sehr eindrucksvolles Erscheinungsbild erzielen kann, denn die Borte und der plissierte Stoff sind allein wegen des Produktionsaufwands schon als Statussymbole zu sehen — sehr passend, für eine langobardenzeitliche Prinzessin!

Das plissierte Gewand wirkt auch auf heutige Betrachterinnen und Betrachter sehr ästhetisch – erinnert es doch in seiner Silhouette und Gestaltung an den Jugendstil. Plissee ist auch im Jahr 2021 aus der Fashionwelt nicht wegzudenken. Die kräftigen Farben im Color-Blocking-Stil tun ein Übriges für eine optisch-ästhetische Anbindung in moderne Zeiten.

Die Rekonstruktion wird nicht nur für die Forscherboxen auf Deck 50 verwendet, sondern auch für verschiedene andere Bereiche in der Öffentlichkeitsarbeit am Naturhistorischen Museum. (Karina Grömer, Kayleigh Saunderson, Anna Zimmermann, 11.11.2021)