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Peking will den Krisenkonzern auf "chinesische Art" abwickeln.

Foto: REUTERS/Aly Song

Peking – Ist der zweitgrößte chinesische Immobilienkonzern Evergrande insolvent oder nicht? Die Ereignisse von Mittwochabend zeigen ganz gut, wie relativ das Konzept der Insolvenz in China ist. Da meldete sich ein deutsches Unternehmen namens Deutsche Medienscreening Agentur zu Wort und verkündete in einer Pressemeldung die Zahlungsunfähigkeit des Giganten.

Damit noch nicht genug: Die Pleite, so schrieb die Berliner Agentur weiter, würde "in letzter Konsequenz zu einem 'Great Reset', also zur finalen Kernschmelze des globalen Finanzsystems, führen". Die Pressemeldung machte auf Twitter schnell die Runde, auch wenn sich einige fragten, weshalb die Insolvenz eines chinesischen Unternehmens ausgerechnet am Abend mitteleuropäischer Zeit bekanntgegeben werden sollte, da ist es in Guangzhou nämlich weit nach Mitternacht.

Nicht offizielle insolvent

Tatsache ist: Evergrande ist noch nicht offiziell insolvent. Das allein aber ist auch kein Grund zum Jubeln. Die Zahlungsschwierigkeiten des mit über 350 Milliarden US-Dollar verschuldeten Konzerns sind immanent. Und was tatsächlich geschah: Evergrande konnte Zinszahlungen ausländischer Kuponhalter am Mittwoch nicht bedienen – der letzte Stichtag für Kuponzahlungen. Evergrande hat sich bisher dazu nicht geäußert.

All das deutet eher darauf hin, dass man das Problem in Peking "auf chinesische Art" zu lösen gedenkt: Ein Vorteil von autoritären Systemen ist es eben, dass der Staat direkt auf Unternehmen Einfluss ausüben kann. Im Falle von Evergrande heißt das: Hier soll ein Gläubiger länger warten, dort soll der Schuldner sofort bezahlen.

Langsame Abwicklung

Ziel ist es, den Immobilienkonzern langsam abzuwickeln, ohne dass dies Schockwellen in die Branche oder die Gesamtwirtschaft aussendet. So werden spartenfremde Konzernteile wie Elektroautos und der Fußballverein FC Guangzhou liquidiert. Bestimmte Staatsunternehmen sind angehalten, Schulden von Evergrande zu übernehmen. So soll ein Flächenbrand verhindert werden. Um die direkten Auswirkungen auf geschädigte Immobilienkäufer zu mildern hat Peking in rund 200 Städten "Task Forces" eingesetzt. Die sollen aufgebrachte Bürger beruhigen, und nach Dringlichkeit Projekte fertigstellen.

Ob die Strategie der "chinesischen Insolvenz" aufgeht, ist eine andere Frage. Denn tatsächlich ist der chinesische Immobilienmarkt wackelig. Derzeit nämlich bekommt auch ein anderer Baukonzern Probleme: Die Kaisa Group wurde von der Ratingagentur Moody’s abgestuft. Noch am Dienstag hatte der Konzern um Hilfe gebeten. Dessen Insolvenz könnte größere Implikationen für das globale Finanzsystem haben. Denn während Evergrande nur einen kleinen Teil seiner Gläubiger im Ausland hat, ist der Anteil bei Kaisa ungleich höher. Am Freitag ist eine Kuponzahlung in Höhe von 59 Millionen US-Dollar fällig. Dass ausländische Gläubiger auch im Fall von Evergrande als Letztes bedient werden, vermuten Analysten schon lange.

Problem Vorauskasse

Zu den Problemen des Megakonzerns war es gekommen, weil das Regime in Peking wieder versucht hatte, den überhitzten Immobiliensektor abzukühlen. Der ist für bis zu 30 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung verantwortlich. Vorauskasse für Wohnungen war längst üblich geworden. Die Käufer einer Wohnung aber mussten trotzdem Jahre warten, bis ihr Objekt fertiggestellt war. Um schnell zu wachsen und weitere Zukäufe zu tätigen, mussten Konzerne wie Evergrande immer mehr Projekte an Land ziehen und das als Vorauskasse erhaltene Geld für Tilgungen und Kuponzahlungen aufwenden. Die Struktur ähnelte der eines Pyramidenspiels. Ende vergangenen Jahres hatte Peking deswegen eine Schuldenobergrenze festgelegt. So konnte sich der 1996 gegründete Konzern nicht mehr so leicht mit frischem Geld finanzieren und geriet im Sommer in Zahlungsschwierigkeiten. (Philipp Mattheis aus Peking, 11.11.2021)