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Damon Albarn sieht auf dem Album "The Nearer the Fountain, More Pure the Stream Flows" die Sonne nur selten.

Foto: Reuters

Machen wir es einmal wie Damon Albarn auf seinem neuen Soloalbum The Nearer the Fountain, More Pure the Stream Flows. Schauen wir aus dem Fenster und lassen uns inspirieren. Na, bumm. Jemand soll einen Witz erzählen. Draußen ist November. Es ist kalt und grauslich. Statt eintöniger Karglandschaft, undurchdringlicher Nebelsuppe über dem Meer und missmutigen Bergen daheim auf Damons Nebenwohnsitz Island halten wir es der Jahreszeit entsprechend hier bei uns wenigstens ebenfalls mit den gedeckten Farben. Braun, Grau, Kackbraun. Dunkelgrau, Schwarz. Ja, ist schon klar: Schwarz ist keine Farbe, sondern eine Weltsicht.

Wenn man die isländischen Berge durch ein Wiener Einkaufszentrum ersetzt, die Karglandschaft am tosenden Meeresstrand durch eine laute Einfallsstraße, die Nebelsuppe einfach Nebelsuppe sein lässt und statt Islandponys beim Grasen den BMWs beim Rasen zuschaut, kommt man auch recht schnell in die ideale Stimmung für die neuen Lieder des fleißigen britischen Musikers.

Damon Albarn

Nach einer veritablen Karriere mit der Band Blur als ewige Kontrahenten von Oasis und den goldenen Zeiten des bierseligen Britpop in den Neunzigerjahren – Oasis Baumschule, Blur Schauspielschule! – gründete Albarn die famose Cartoon-Band Gorillaz. Albarn spielte bei The Good, the Bad & the Queen gemeinsam mit Punkheld Paul Simonon von The Clash und der 2020 verstorbenen Afrorock-Legende Tony Allen. Er schrieb zwei Opern und diverse Soundtracks, und er machte zwischendurch mit Rocket Juice & the Moon ein wenig nicht so zwingende Proberaummusik. Irgendwie unternahm der heute 53-jährige Herzblutmusiker mit seinen Projekten zwischendurch alles auf einmal.

2014 nahm Albarn auch ein Soloalbum auf. Everyday Robots offenbarte, dass Damon Albarn es nicht nur leise und folkig anlegen kann. Er stellte mit den Liedern über die grauen Seiten des Lebens auch unter Beweis, dass es sich bei ihm um einen hundertfünfzigprozentigen Melancholiker handelt.

Eisig zischt der Wind

Das Album The Nearer the Fountain, More Pure the Stream Flows startet jetzt, sanft mit kammermusikalischen Tastversuchen unterlegt, mit der Adaption eines Trauergedichts des romantischen Dichters John Clare. Aus dem stammt auch der Titel des Albums: "You have gone / The dark journey that leaves no returning / It’s fruitless for me to mourn you / But who can help mourning / To think of life that did laugh on your face / In the beautiful past / Left so desolate now ..."

Der Atlantische Ozean rauscht im Hintergrund. Vorn stellt Albarn in The Cormorant weiterhin langsam und behutsam mit klirrender Gitarre, antiker Drumbox, tröpfelnden Keyboardklängen und reichlich Hall auf der müden Stimme eine wesentliche Frage: Wohin nur ist die glückliche Zeit verschwunden, als ich als junger Mann mit meinen Kindern am Strand gespielt habe? Verschwunden, oh weh, verschwunden. Es geht auf diesem Album um die Angst vor dem Tod. Regen verwandelt sich auf schwarzen Stränden in Schnee. Eisig zischt der Wind. Er jagt die Vögel auseinander. Wir blicken in den dunklen Spiegel unseres Lebens. Das Ende ist nah!

ARTE Concert

Das alles kommt bei allem Hang Damon Albarns zur Melancholie doch recht hart daher. Neben dem isländischen Heimstudio nahm er das Album mit Streichmusikern, seinem langjährigen Gitarristen Simon Tong und Stammarrangeur Mike Smith auch in einem schlecht beheizten winterlichen Kobel an der westenglischen Küste auf. Auch dort bekamen die lebensmüden Balladen recht bald Frostbeulen.

Die beglückendsten, nun, ja, tröstlichsten Momente erlebt man auf dem Album in Instrumentalstücken wie Esja oder Giraffe Trumpet Sea. Dort sirren sich die Streicher zum einen von Island hinüber nach Dröhnland. Zum anderen feiert man in der arktischen Nacht eine verfrorene Tropicalia-Party. Am Ende dieses wirklich außergewöhnlichen Albums jenseits jedweder oberflächlichen Beschwingtheit steht die Rückkehr zum Anfang. Wie es im Albumtitel lautet: "Je näher die Quelle, desto reiner fließt der Strom." Als Alter wird man wieder zum Kind. Dann ist das Leben aus – und es wird trotz der Nebelsuppe Licht.

Man sollte diese Lieder nicht allein hören. Das nächste fröhliche (und ein wenig melancholische), im bunten Multikulti-Treiben Westlondons aufgenommene Gorillaz-Album kommt bestimmt. Der Strandurlaub 2022 wurde trotzdem schon gebucht. Statt für Island haben wir uns allerdings für Kreta entschieden. Dort kommen die Fische ja auch aus dem Nordatlantik. (Christian Schachinger, 12.11.2021)