Touristen- und Windkraftinsel: Helgoland hat viele Gesichter. Im Kleinen spielen sich dort die Konflikte ab, die die Energiewende im ganzen Land betreffen.

Foto: Jan Kräutle

Mittags um 13 Uhr kommen sie: Die Fähren aus Hamburg oder Büsum legen auf Helgoland an – und plötzlich wird aus der verschlafenen Nordseeinsel eine Touri-Hochburg. An Bord haben sie hunderte Tagestouristen, Rentner und junge Eltern drängeln sich über die Gangway. Sie wollen Kegelrobben fotografieren und Trottellummen kreischen hören. Sie marschieren in die Duty-free-Shops, essen ein Fischbrötchen in Helgolands bunten Hummerbuden oder trinken Aperol Spritz an der Uferpromenade.

Zwischen den Touristen tippseln Männer in schwarzen Regenjacken gelangweilt auf ihren Handys herum. Sie fotografieren nichts, sie trinken auch keinen Aperol Spritz, nein, an Land angekommen laufen sie direkt in die große Halle gleich am Hafen, auf der RWE steht. Oder sie grüßen Kollegen auf den anderen Schiffen im Hafen, die Seewind 1 oder Mainprize Offshore heißen. Oder sie checken direkt ein im größten Hotel Helgolands: dem Hotel Atoll.

Serviceinsel für Offshorewindkraft

Obwohl, eigentlich ist das Hotel Atoll kein Hotel mehr – denn seitdem der Energiekonzern WindMW es gepachtet hat, dürfen hier keine Touristen mehr wohnen, sondern nur noch Wanderarbeiter, die Windanlagen reparieren oder steuern.

Seit Jahrhunderten kommen Touristen nach Helgoland – auf die Insel, die sich gern "Deutschlands einzige Hochseeinsel" nennt. Aber Helgoland hat ein zweites Gesicht bekommen: Seit 2011 nennt Helgoland sich "erste Serviceinsel der Welt für die Offshorewindkraft". Die Energieindustrie ist auf die kleine Nordseeinsel gekommen, um hier einen Außenposten zu errichten – mitten in der Deutschen Bucht, wo sie die Nordseestürme ernten kann.

Offshore-Gelder

Der Mann, der RWE und WindMW auf die Insel lockte, heißt Jörg Singer, seit 2011 Bürgermeister von Helgoland. Singer sitzt in seinem Büro im Helgoländer Rathaus und sagt: "Klar, am Anfang gab es viele Offshore-Kritiker, aber heute stehen 95 Prozent der Helgoländer hinter dem neuen Standbein Offshore." Umfragen, die das belegen, gibt es nicht. Aber hört man sich auf Helgoland um, dann scheinen die meisten Bürger überzeugt: Ohne das Offshore-Geld ginge es halt nicht.

Doch geht es nach Helgolands Bürgermeister, dann war das erst der Anfang: Helgoland soll zum Zentrum der deutschen Wasserstoffwirtschaft werden. Hunderte neuer Windkraftanlagen sollen vor der Insel Wasserstoff erzeugen, der per Pipeline nach Helgoland gebracht und von da aus weiter auf das Festland verschifft werden soll.

Viele Bewohner zaudern

Aqua Ventus heißt das Projekt, und es ist eines der größten Wasserstoffvorhaben, die derzeit auf der Welt geplant sind. Wasserstoff soll der Treibstoff der klimaneutralen Zukunft werden. Heute ist er zwar noch Mangelware – aber die EU und die deutsche Regierung wollen das ändern. Sie fördern Wasserstoffvorhaben wie Aqua Ventus, die Milliarden Euro kosten. Dafür soll Aqua Ventus so viel Wasserstoff herstellen können, wie heute die gesamte deutsche Chemieindustrie verbraucht: rund eine Million Tonnen.

Doch auf Helgoland glauben viele, dass das ein paar Nummern zu groß ist für die kleine Insel. Einerseits. Andererseits braucht die Insel dringend Geld. Wasserstoff? Eigentlich eine gute Idee, aber besser nicht hier. Zukunft? Ja, gern, aber bitte nicht so schnell. Die Helgoländer zaudern, aber ihr Bürgermeister will das Projekt trotzdem durchziehen.

Immer mehr Abwanderung

Einer von jenen Einwohnern, die die Entwicklung auf Helgoland bereits seit langem mitverfolgen, ist Olaf Ohlsen. Er sitzt am Küchentisch seiner Wohnung, gleich am Helgoländer Leuchtturm, umringt von Fotos seiner Kinder, seiner Frau und dem Nachkriegs-Helgoland. Ohlsen ist mit 86 Jahren einer der ältesten Bewohner der Insel und hat mitbekommen, wie Helgoland über die Jahrzehnte langsam abgestiegen ist. In den 1970ern kamen noch 800.000 Menschen im Jahr. Bis heute hat sich die Zahl halbiert, junge Helgoländer zogen weg, die Alten starben.

Doch dann bot sich Helgoland eine einmalige Chance. Olaf Ohlsen zieht sich einen Anorak an, tritt vor seine Tür, geht am Leuchtturm vorbei, stellt sich auf einen Felsen und zeigt nach Norden. Am Horizont steht eine Terrakotta-Armee aus Windrädern, nachts flackern ihre Warnleuchten rot wie Schanghai zu Neujahr. "Die bringen uns mittlerweile eine Menge Geld ein", sagt Ohlsen.

Olaf Ohlsen, einer der Bewohner von Helgoland, sieht auch den finanziellen Vorteil der Windräder.
Foto: Jan Kräutle

Wasserstoff-Terminal

Die drei Windparks heißen Nordsee Ost, Amrumbank West und Meerwind. Zusammen haben die gut 200 Windräder eine Leistung von rund einem Gigawatt – so viel wie ein kleines Atomkraftwerk. Gerade baut RWE einen vierten Windpark vor Helgoland: Kaskasi soll 2022 ans Netz gehen. Aber laut Helgolands Bürgermeister kommt der ganze große Wurf erst noch.

Sollte das Wasserstoffprojekt Aqua Ventus Realität werden, würden sich die Anlagen im Norden von Helgoland verzigfachen. Im Südhafen, dem Industriehafen, würde Land aufgeschüttet, um einen Terminal zu bauen, von dem aus der Wasserstoff exportiert würde. Noch mehr Industrie auf dieser Insel, die gerade mal einen Quadratkilometer groß ist – ein Drittel der Fläche des Tempelhofer Felds in Berlin.

Verschuldete Insel

Ohlsen schaut herab auf den Südhafen. "Ach, wissen Sie, als die Offshore-Firmen kamen, waren auch alle erst mal dagegen", sagt er, "aber hätte Jörg Singer damals nicht die Offshore-Firmen angelockt, wären wir heute vielleicht pleite."

Jörg Singer wurde am Bodensee geboren, aber als er zwölf Jahre alt war, zog seine Familie nach Helgoland. Singer besuchte auf Helgoland die Schule, aber die geht hier nur bis zur zehnten Klasse. Singer verließ die Insel, später studierte er Wirtschaftsingenieurwesen.

Nach dem Studium startete er eine Karriere in der freien Wirtschaft: Er arbeitete als Manager und Berater, gründete Unternehmen oder strukturierte sie neu: IT-Firmen, Pharmaunternehmen und Banken in München, Frankfurt und Hongkong. Zurück kam Singer, als die Helgoländer ihn zum Bürgermeister wählten. Als er dann im Amt war, begann er eben, die verschuldete Insel umzustrukturieren.

Jörg Singer hat noch Großes für Helgoland im Sinn.
Foto: Jan Kräutle

Roter Teppich für Firmen

Er sah, wie die Energieunternehmen nur 35 Kilometer vor seiner Insel für Milliarden von Euro Windkraftanlagen bauten. Wenn davon nur ein paar Millionen für Helgoland abfallen würden, dann wären die Kassen wieder voll. Singer rollte ihnen den roten Teppich aus. Er bot den Firmen große Flächen im Südhafen an und erlaubte RWE und Co, 900 Helikopterflüge im Jahr von Helgoland aus zu ihren Anlagen zu starten.

Der Insel bringt das seit 2015 jährlich über zehn Millionen Euro Gewerbesteuer – je nachdem wie stark der Wind bläst. Bevor die Offshore-Betreiber kamen, war Helgoland mit 30 Millionen Euro verschuldet. In drei Jahren könnte Helgoland schuldenfrei sein, sagt Singer. Mit dem Offshore-Geld hat er die Hafenstraße und den Binnenhafen sanieren und 67 neue Wohnungen im Oberland bauen lassen. Gerade saniert Helgoland sein Aquarium und die historischen Bunkeranlagen. Damals ging Singer mutig voran und holte Industrie auf die marode Touri-Insel, obwohl sie vielen suspekt war.

Großes wagen

Mit Aqua Ventus soll es erneut klappen – nur ein paar Nummern größer. Dafür hat Singer das Who’s who der europäischen Energieindustrie hinter sich versammelt: RWE, Vattenfall, Ørsted, Siemens und über 60 andere Konzerne und Forschungszentren beteiligen sich an dem Projekt.

Auf Helgoland will die europäische Industrie wieder einmal etwas Großes wagen. Nicht schon wieder bei einer Schlüsseltechnologie den Anschluss verlieren, weil Amerikaner und Asiaten kühner waren. Nicht schon wieder die nächsten Klimaziele verpassen. Deshalb wollen sie hier bis 2035 eine Million Tonnen Wasserstoff im Jahr herstellen. Zum Vergleich: Das ist so viel grüner Wasserstoff, wie die EU-Kommission bis 2024 in ganz Europa herstellen will.

Nutzen von Wasserstoff

Vielleicht ist Singer ja wirklich größenwahnsinnig. Vielleicht muss man aber auch groß denken, um die Energiewende zu schaffen.

Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral werden: Solaranlagen statt Kohlekraftwerke, Elektroautos statt Verbrenner, Wärmepumpen statt Ölheizungen – alles muss mit grünem Strom angetrieben werden.

Aber es gibt Orte, an denen man mit Strom und Batterien nicht weiterkommt, und genau da braucht es Wasserstoff. Nur, um Wasserstoff herzustellen, braucht man eben sehr viel Energie, und genau da kommt Helgoland ins Spiel.

Alle zuerst dagegen

"Wir sind umgeben von Energie", sagt Bürgermeister Singer, "wir müssen sie nur nutzen." Ob die Helgoländer das überhaupt wollen, ist unklar.

Würden Sie es auf ein Referendum ankommen lassen, Herr Singer? "Nein, das ist Käse." Wieso? "Weil da weder Kompromiss noch Konsens möglich ist. Heutzutage ist es doch so: Wenn man etwas wagt, dann sind erst mal alle dagegen. Hätten wir damals ein Referendum über Offshore gemacht, wäre das höchstwahrscheinlich abgelehnt worden. Wir leben in Zeiten, in denen es vielen zu gut geht und sich immer die anderen ändern sollen. Das müssen wir überwinden."

Kritik aus Lokalpolitik

Ein bekannter Aqua-Ventus-Kritiker auf der Insel ist der dritte stellvertretende Bürgermeister von Helgoland, Thorsten Falke von der Regionalpartei Südschleswigscher Wählerverband (SSW). Ein stämmiger Mann im Hawaiihemd. In der Lokalpolitik engagiert er sich ehrenamtlich, er ist Rentner.

Die Insel sei zu klein für so ein Projekt, sagt Falke. Die Chemikalien, die man braucht, um Wasserstoff transportabel zu machen, seien gefährlich. Und überhaupt: Das alles könnte die Touristen stören, weil die ja auf eine Naturinsel kommen wollten, und nicht auf eine Industrieinsel. "Und das mit den Wanderarbeitern finde ich auch nicht so prickelnd", sagt er. Schon jetzt machen sie etwa ein Zehntel der Helgoländer Bevölkerung aus.

"Nicht auf Helgoland"

Fragt man Thorsten Falke, was sein politischer Schwerpunkt ist, sagt er: Umweltschutz. "Deshalb halte ich Wasserstoff ja im Prinzip auch für eine gute Idee", sagt er, "aber doch nicht auf Helgoland."

Als Umweltpolitiker weiß Falke, dass es Wasserstoff braucht, um die Energiewende zu schaffen. Als Lokalpolitiker weiß er, wie viel Geld Helgoland schon heute mit der Energieindustrie verdient. Aber als Helgoländer will er seine Insel so behalten, wie sie ist.

So geht es vielen Helgoländern. Ein Juwelier sagt, seitdem das einzige Luxushotel der Stadt an eine Windfirma verpachtet sei, kämen keine Kunden mehr in seine Läden. Die Besitzerin eines Gewandgeschäfts sagt, sie müsse bald aufs Festland ziehen, weil kaum noch Leute in ihr Geschäft kommen, um steuerfreie Adidas-Klamotten zu kaufen.

Keine Jobs für Einheimische

Schon lange kann Helgoland nicht mehr von seinen Duty-free-Shops und Fischbrötchen leben. Jetzt kommen die Energiekonzerne, sie zahlen auch ordentlich Gewerbesteuer, aber Jobs für Helgoländer haben sie nicht dabei.

Die meisten Mitarbeiter von RWE und WindMW sind Offshore-Pendler vom Festland. Und auch wenn der Wasserstoff kommt, werden es Spezialisten vom Festland sein, die Elektrolyseplattformen warten und die Umwandlung von Wasserstoff in die Trägerflüssigkeit LOHC überwachen. Vielleicht fremdeln auch deswegen so viele Helgoländer mit der Industrie auf ihrer Insel.

Sorge um Vögel

Und dann sind da noch die Vögel. "Wissen Sie eigentlich, wie viele Vögel in Windkraftanlagen sterben?", fragt Falke. Schon an Land formiert sich ja gegen nahezu jedes neue Windrad, das gebaut werden soll, Widerstand – oft weil Anwohner um die Vögel besorgt sind. Auch auf Helgoland hört man dieses Argument immer wieder, schließlich ist Helgoland DER deutsche Vogelhotspot. Für einige Vogelarten ist es der einzige Brutplatz in Deutschland, für Zugvögel ist es ein wichtiger Rastplatz. Es gibt Tage, da findet man an keinem Ort in Deutschland mehr Vögel als auf Helgoland.

Gefahr für Vögel oder gut für den Klimaschutz? Auf Helgoland ist die Meinung zu den Windrädern gespalten, auch aufgrund des Artenschutzes.
Foto: Jan Kräutle

Im Innenhof der Vogelwarte Helgoland sitzt Jochen Dierschke, technischer Leiter, und zählt Risiken auf: Basstölpel, die für ihre Nahrungsflüge bis nach Norwegen fliegen, müssten die Windparks weiträumig umfliegen. Das kostet sie Kraft. Seetaucher können in Gebieten, wo Offshore-Windparks stehen, nicht fischen. Darum meiden sie die. Und Drosseln, die oft nachts fliegen, könnten die Windräder oft erst sehen, wenn es zu spät ist. Dann werden sie von den Rotorblättern zerhackt. In manchen Nächten könnten es tausende Vögel sein, die in Windparks auf der Nordsee sterben, sagt er.

Globale Erwärmung größere Gefahr

"Aber bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch!", sagt Dierschke. Er sei ja für Offshore-Windkraft, und auch Aqua Ventus halte er grundsätzlich für eine gute Idee. "Die globale Erwärmung ist langfristig wahrscheinlich die größte Gefahr für Menschen und Tiere", sagt er, "auch auf Helgoland." Im Hitzesommer 2018 sei auf Helgoland beinahe die ganze Brutsaison ausgefallen. Der Lummenfelsen – die wichtigste Vogelbrutstätte auf Helgoland – sei 52 Grad warm geworden. Die Dreizehenmöwen seien damals einfach losgeflogen und haben ihre Eier zurückgelassen. Es war so warm, dass das Eiweiß vermutlich zerfallen sei.

Als Ornithologe tue ihm jede tote Möwe weh, sagt Dierschke, aber als Umweltschützer wolle er auch mehr erneuerbare Energie. Jochen Dierschke sagt: "Durch mich geht ein Riss."

Jochen Dierschke sorgt sich um die Vögel auf Helgoland.
Foto: Jan Kräutle

Zwischen Tierschutz und Klimaschutz

Durch Helgoland verlaufen die gleichen Risse wie durch den Rest des Landes, nur ist es hier so eng, dass die Risse durch Menschen verlaufen. Menschen wie Olaf Ohlsen, Thorsten Falke oder Jochen Dierschke hängen zwischen Tierschutz und Klimaschutz, Nostalgie und Fortschritt, Windenergie und – ja, was eigentlich sonst?

Es kann auch noch alles ganz anders kommen mit Aqua Ventus: wenn sich Bürgerinitiativen gründen oder die Energiekonzerne die Pipeline vorbei an Helgoland direkt ans Festland bauen. Und kommendes Jahr steht auf Helgoland auch noch die Bürgermeisterwahl an. Ob Singer wieder antritt, steht noch nicht fest. Aber auf der Insel munkelt man, dass Singer eigentlich größere Ziele habe als Helgoland – vielleicht in der Wirtschaft. Er hat die Freiheit, sich mit Aqua Ventus über die Zauderer hinwegzusetzen. (Yves Bellinghausen, 16.11.2021)