Anfang dieser Woche waren die Grünen noch nahezu euphorisch. Auf dem Bund-Länder-Gipfel am Freitag zuvor sei endlich ein bisschen Bewegung ins Pandemie-Management gekommen. Die Ausdehnung der FFP2-Masken-Pflicht, lange Zeit ein No-Go – plötzlich konnten sich alle darauf verständigen, was der kleine Koalitionspartner seit Wochen gefordert hatte. Mit Landeshauptleuten und türkisen Regierungsmitgliedern habe ein echter Austausch stattgefunden. Das liege vor allem an einem, waren die Grünen überzeugt: dem neuen Kanzler Alexander Schallenberg, der so diplomatisch agiere. Oder – und das war wohl eigentlich gemeint – es lag noch mehr daran, dass einer nicht mehr dabeisaß: Sebastian Kurz. Die Euphorie hielt bis Mittwoch.

Um Ex-Kanzler Sebastian Kurz ist es zuletzt erstaunlich ruhig geworden.
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"Fraktionelle Vorbesprechung" ist das Wording der Türkisen für die Abstimmung des ÖVP-Teils der Regierung mit Kurz. Diese Termine finden regelmäßig statt, auch vor den wöchentlichen Ministerratssitzungen. Diesen Mittwoch, wird erzählt, habe die türkise Truppe wieder ganz anders gewirkt als noch ein paar Tage zuvor. Es wurde ein Vorschlag aufgebracht, den Kurz schon im Spätsommer gemacht hatte. Der Altkanzler, so die Interpretation, ziehe im Hintergrund jetzt wieder die Fäden.

"Ein Einreiseverbot hat Sebastian Kurz nicht"

Öffentlich ist es um Sebastian Kurz ruhig geworden, seit er "zur Seite" trat. Er geht kaum auf Veranstaltungen, hält keine Pressekonferenzen ab. "Ruhe geben kann er aber nicht", sagt ein Türkiser aus einem Ministerium. Backstage werde an Strategien gefeilt, mitgemischt, eine Imagepolitur zusammengebraut. In den kommenden Monaten soll Kurz durch Österreich fahren und die eigenen Leute in den Landesparteien wieder für sich gewinnen. Es wird eine Ochsentour. Im Westen will man nur Zeit für Video-Calls mit ihm haben. In Oberösterreich sagt ein Schwarzer: "Ein Einreiseverbot hat Sebastian Kurz nicht." Aber Schallenberg entwickle doch immer mehr Format.

Das allergrößte Anliegen ist Kurz aber ohnehin ein anderes: seine juristische Reinwaschung. Eigentlich alle, die ihn gut kennen, sind sich einig: Kurz ist bis heute ehrlich überzeugt, er sei Opfer einer Intrige geworden. Nun liege ein Rechtsgutachten vor, das ihm bescheinige, dass eine Verurteilung in seinem Fall unwahrscheinlich sei – und die Vorgehensweise der Korruptionsermittler zumindest "ungewöhnlich" erscheine. Kurz werde bald auch selbst wieder in die Offensive gehen.

Aber ist eine Rückkehr ins Kanzleramt überhaupt noch denkmöglich – nach allem, was geschah? Es gibt fünf Szenarien, wie sein Kampf zurück an die Macht ausgehen könnte. In den wenigsten Fällen sieht es dabei gut aus für Kurz.

  • Zeitnahe Entlastung durch eine Einstellung des Verfahrens

Selbst Kurz’ treueste Anhänger wissen, dass es zwar die größte Chance auf ein erfolgreiches Comeback, aber nicht mehr als Wunschdenken ist: Werden zeitnah alle Vorwürfe gegen den Altkanzler fallengelassen, so glaubt man parteiintern, könnte Kurz die ÖVP in Neuwahlen führen – mit großem Erfolg. Für Juristen deutet allerdings nichts darauf hin, dass die Korruptionsermittlungen gegen Kurz und seine Vertrauten eingestellt werden. Im Gegenteil: Kommende Woche wird der Altkanzler im Parlament auf Wunsch der Korruptionsstaatsanwaltschaft ausgeliefert – als Abgeordneter wäre er sonst gegen strafrechtliche Verfolgung immun.

  • Es kommt zu Neuwahlen, weil die Koalition zerbricht

Manche ätzen, Kurz sei gar nicht so unzufrieden mit der aktuellen Corona-Situation – denn seine Leute könnten nun verbreiten, dass mit ihm der erfahrene Krisenkanzler fehlt. Die meisten in der ÖVP sind mit Schallenberg allerdings durchaus glücklich. Sollte die Koalition zerbrechen, würde sich in der ÖVP akut die Frage nach dem nächsten Spitzenkandidaten stellen. Solange Kurz mit den Anschuldigungen gegen ihn beschäftigt ist, wäre er als Frontmann in einem Wahlkampf schwer belastet. Und aus heutiger Sicht würde danach niemand mit ihm koalieren. Das weiß man in der ÖVP und zeigt deshalb vorerst kein Interesse an baldigen Neuwahlen.

  • Es kommen noch mehr Vorwürfe

In weiten Teilen der ÖVP herrscht die Angst, dass noch weitere belastende Chats an die Öffentlichkeit geraten könnten. In der Partei hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die nächste Hiobsbotschaft im kommenden März anstehe. Warum ausgerechnet dann und was genau das sein soll, weiß hingegen keiner. Das Smartphone des Ex-Generalsekretärs im Finanzressort, Thomas Schmid, ist jedenfalls noch nicht vollständig ausgewertet. Sein Handy war schon bisher eine Goldgrube für die Ermittler. Sollte Kurz in weitere Causen verstrickt sein, sei er selbst als Parteiobmann schwer zu halten, sagen sogar Türkise.

  • Ablöse durch Zeitablauf

Mit jedem Tag, der vergeht, wird es mehr zur Normalität, dass Kurz nicht mehr Kanzler ist, sagt ein ehemals treuer Weggefährte. Derzeit spiele man in der ÖVP vor allem auf Zeit; eine Antwort auf die Frage, wie es weitergehe, werde konsequent ausgespart. Wohl auch deshalb, weil die zündende Idee fehlt, wie die Zukunft von Kurz aussehen könnte. Vielleicht werde irgendwann auch einfach ein neuer Kandidat oder eine Kandidatin nebenbei etabliert, sagt ein ÖVP-Stratege.

  • Kurz schmeißt hin

Derzeit treibt Kurz vor allem das Gefühl an, ungerecht behandelt worden zu sein. Der Altkanzler wolle es allen noch einmal zeigen. Doch Weggefährten glauben, dass es am Ende weniger darum gehen könnte, ob die Partei mit Kurz an der Spitze weitermachen möchte, sondern vielmehr darum, ob er selbst noch will. Mit der Rolle als Klubchef und Parlamentarier werde er sich nie abfinden. Dauern die Ermittlungen zu lange, sei nicht ausgeschlossen, dass Kurz hinschmeißt.

Schon heute steht fest: In der ÖVP haben sich zwei Lager gebildet. Auf der einen Seite stehen die Getreuen von Kurz, die mit ihm das letzte Gefecht austragen – angetrieben vom Ärger über die Grünen. Ihnen gegenüber stehen jene, die eine türkise Vendetta verhindern wollen – und weiterregieren möchten. Und dazwischen: Kanzler Schallenberg. Seine Rolle wird täglich gewichtiger. (Jan Michael Marchart, Katharina Mittelstaedt, 13.11.2021)