Die Wiener Gedenkmauer erinnert an 64.440 Namen von ermordeten jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Österreich.

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Das im Jahr 2000 errichtete Denkmal der Künstlerin Rachel Whiteread auf dem Wiener Judenplatz.

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Das 2005 eröffnete Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.

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Jetzt steht sie plötzlich doch da, jene Shoah-Gedenkmauer, für die der Künstler und Holocaust-Überlebende Yakov Tutter 25 Jahre lang geworben hatte. Ausgerechnet die vergangene türkis-blaue Regierung war letztlich bereit, das Denkmal umzusetzen und 4,5 von insgesamt 5,3 Millionen Euro Errichtungskosten bereitzustellen.

Kritiker des Projekts sahen mehrere Probleme: zum Beispiel den angeblichen Versuch einer Rechtsregierung, sich in besseres Licht zu rücken. Oder die Tatsache, dass NS-Opfergruppen wie Roma und Sinti nicht mitbedacht werden sollten. Letztlich auch, dass es keine breite Debatte im Vorfeld, keinen künstlerischen Wettbewerb gegeben hatte. Es wurde gemacht, was der heute 94-jährige Tutter einst skizzierte. Umgesetzt vom Wiener Architekten Wolfgang Wehofer.

Signum der Individualität

Wie ist die Gedenkstätte nun abseits der schwierigen Vorgeschichte ästhetisch einzuordnen? Konservativ, aber effektiv. Denn die Überlegung, jene bis heute bekannten 64.440 Namen ermordeter Jüdinnen und Juden aus Österreich in in einem begehbaren Oval angeordnete Steintafeln zu gravieren, folgt einer der ältesten Techniken der Erinnerungskultur überhaupt.

Namen sind seit der Aufklärung das zentrale Signum der Individualität. Und die wurde im NS-Staat insbesondere den verfolgten Minderheiten und selbst der militarisierten Masse systematisch geraubt. Während nach 1945 fast jedes Dorf seinen Krieger- und postnazistisch verklärend auch Heldendenkmal genannten Erinnerungsort mit gravierten Namen der Gefallenen erhielt, hatten die NS-Opfer nichts: keine Gräber, keinen Ort, um Trauer zu bekunden.

Namen machen betroffen

Ein abendlicher Rundgang in dem neu errichteten Oval am Wiener Ostarrichipark macht unweigerlich betroffen. Die Dimension des Völkermords, die in abstrakten Zahlen oft nicht zu begreifen ist, erschließt sich erst durch die über und über mit Namen versehenen Tafeln – jede Gravur ein Menschenleben, das lässt nicht kalt. Blumen wurden niedergelegt, Kerzen entzündet, die Kargheit der Mauerelementewird bald durch Bäume im Inneren der Rundung und Begrünung an der nackten Außenseite mit Lebendigkeit kaschiert werden.

Auch der Ort ist gut gewählt. Den Ostarrichipark begrenzen Uni-Campus, Nationalbank und Justizanstalt – Geist, Wirtschaft und Rechtssystem, drei wesentliche Säulen eines Staates, die im Nationalsozialismus gekapert und pervertiert wurden.

Ein Zusatzstein weist nun doch auch auf andere NS-Opfergruppen hin: Roma und Sinti, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, politische und als "asozial" Verfolgte. Die Platzierung des Steins außerhalb des Ovals nährt allerdings durchaus den Eindruck der Pflichtschuldigkeit. Das wäre besser gegangen.

Problem der Akzeptanz

Den Ansatz, inklusiver zu gedenken, hatte einst der Bildhauer Alfred Hrdlicka bei seinem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus verfolgt, das 1988 auf dem Wiener Albertinaplatz (heute Helmut-Zilk-Platz) errichtet wurde. Mit mäßiger Akzeptanz.

Denn Hrdlickas an Rodin geschulter Stil, figurativ, aber expressionistisch abstrahiert, führte etwa dazu, dass die Plastik "straßenwaschender Jude" oft nicht erkannt und als Sitzgelegenheit missverstanden wurde. Die spätere Absicherung durch einen am Rücken der Figur montierten Stacheldraht verstärkte die von vielen als Erniedrigung empfundene Symbolik. Das Hrdlicka-Denkmal brachte Simon Wiesenthal zu der Ansicht, dass sich figurative Kunst nicht für Shoah-Gedenkstätten eigne.

Das 2005 eröffnete Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zeigt andererseits, dass selbst starke Abstraktion problematisch sein kann. Die 2711 schmucklosen, nach Strich und Faden fast militärisch angeordneten Betonquader sind bis heute umstritten, sie machen es rechten Parteien leicht, sich darüber zu echauffieren, ahnungslose Touristen knipsen vor dem Werk lächelnd Selfies.

Versuch eines Mittelwegs

Einen Mittelweg versuchte Wien mit dem 2000 enthüllten Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah auf dem Judenplatz. Über die unterirdischen Reste einer mittelalterlichen Synagoge platzierte die Künstlerin Rachel Whiteread einen Kubus, dessen Außenfassade aus Buchrücken besteht, symbolisch für das Judentum als ein Volk des Buches. Der künstlerisch akklamierte Symbolismus erfüllte aber für viele erneut nicht das Bedürfnis nach individueller Trauer: Anstatt der Namen der Ermordeten wurden die Bezeichnungen der Konzentrationslager in Stein graviert.

Namen, so scheint es, bleiben doch essenziell für eine Gedenkkultur, die breite Akzeptanz finden will – sei es beim 9/11-Memorial in New York oder beim Gedenkkomplex Yad Vashem in Jerusalem, der vielfach auf audiovisuelle Lösungen setzt. Allein die auf einem Endlostonband durchlaufende Verlesung der Namen von 1,5 Millionen ermordeten Kindern dauert drei Monate.

Die Wiener Namensmauer mag zwar weder künstlerisch noch technisch herausragen. Gut möglich aber, dass nun erst im dritten Anlauf eines erfüllt ist: der Zweck. (Stefan Weiss, 13.11.2021)