Die Pikmin sind putzige, pflanzenähnliche Kerlchen. In diesem Spiel werden sie durch Spazierengehen herangezüchtet.

Foto: Niantic

Wenn es um Mobile Gaming und Augmented Reality geht, dann fällt früher oder später immer der gleiche Name: Niantic – jene vom ehemalige Google Maps- und Google Earth-Manager John Hanke gegründete Firma, die im Jahr 2016 mit Pokémon Go einen Welthit landete, der noch immer von allerlei Menschen gespielt wird und in seiner Beliebtheit unter Mobile-AR-Gamern nach wie vor unerreicht bleibt.

Auch mit den eigenen Spielen konnte Niantic nie wirklich an den Pokémon-Erfolg anschließen, das zuvor mit viel Spannung erwartete Harry Potter: Wizards Unite wird nun gar eingestellt. Mit Pikmin Bloom startet man nun den nächsten Anlauf – und legt dabei den Fokus auf ein Thema, das in Zeiten von Lockdowns und Pandemien zuletzt viele Freunde und Feinde fand: Das Spazieren.

Spazieren als Spielkonzept

Ja, richtig gelesen. Während man bei anderen AR-Spielen Pokémon durch Wischbewegungen auf dem Handyscreen mit einem virtuellen Ball fangen oder als Witcher böse Monster bekämpfen muss, züchten Spieler bei Pikmin Bloom die putzigen Pikmin heran, indem sie mit ihnen spazieren gehen. Kämpe oder andere Action-Einlagen gibt es nicht. Dafür können die gezüchteten Pikmin weiter entwickelt und auf Missionen geschickt werden.

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Das Züchten erfolgt konkret, indem man Pflanzen-Setzlinge in einem Rucksack platziert und anschließend das Haus verlässt, um ein paar Meter zu gehen. Nach 1000 Schritten ist der Pikmin – ein pflanzenartiges kleines Wesen mit Blüte auf dem Kopf – herangewachsen und kann aus dem Topf heraus gezogen werden.

Das Interface schaut dabei ähnlich aus, wie man es schon von so gut wie allen anderen Niantic-Spielen kennt: In der Mitte des Bildschirms steht die eigene Spielfigur, die sich auf einem virtuellen Abbild der realen Welt – dem Metaversum! – bewegt, indem man in der realen Welt selbst durch die Straßen spaziert.

Eine Welt voller Blumen

Das Heranziehen der Pikmin ist aber nicht der einzige Zweck des Spazierens. Denn außerdem hat Niantic ein putziges Multiplayer-Feature eingebaut, bei dem man gemeinsam die Straßen mit virtuellen Blumen voll pflanzt. Dies geschieht, indem der Spieler den entsprechenden Modus startet – daraufhin erklingt eine manisch-optimistische Melodie und der Avatar hopst fröhlich auf und ab.

Der Hauptscreen erinnert sehr stark an das Aussehen der Vorgängerspiele.
Foto: Screenshot/Niantic

Während man in diesem Zustand durch die Nachbarschaft streift, werden die Blumen gepflanzt, solange Samen vorhanden sind. Und diese Blumen sind wiederum von allen anderen Spielern sichtbar. Zumindest in meiner Nachbarschaft dürfte das gut ankommen, denn nur wenige Tage nach dem Österreich-Start des Spiels Anfang November waren die in der Realität so tristen und verwahrlosten Gassen meiner Hood wenigstens in der virtuellen Welt bunt erblüht.

Die Blumen sind zugleich ein Element, das mit jenen großen Pflanzen interagiert, die sich nun an jenen POIs befinden, an denen bei Ingress die Portale beziehungsweise bei Pokémon Go die Pokéstops befanden. Werden um diese Pflanzen herum durch die Spieler virtuelle Blumen gepflanzt, so treiben diese noch größere Blüten.

Postkarte aus der Nachbarschaft

Allerdings gehen die Spieler nicht nur selbst spazieren, sie können ab einem bestimmten Level auch die Pikmin auf Missionen schicken. Diese ziehen daraufhin los und sammeln Gegenstände ein – darunter Setzlinge zum Heranziehen weiterer Pikmin und Obst, das man an die kleinen Freunde verfüttern kann. Außerdem verschicken sie Postkarten von den besuchten Locations, die man wiederum an die eigenen (echten, menschlichen) Freunde verschicken kann, sofern man welche hat.

Bei Ausflügen sind die Pikmin regelrechte Selfie-Meister.
Foto: Screenshot/Niantic

Ich bin bis nach Bayern gefahren und habe dort geschaut, ob ich die Pikmin auch zu fuß zurück nach Wien schicken kann – und ja, das funktioniert. Sie brechen dann ebenso auf als wenn das Ziel einfach nur um die Ecke liegen würde, sind aber ein paar Tage unterwegs. Ihren Standort kann man jeweils auf der Karte mit verfolgen – einmal befand sich mein Pikmin knapp nördlich von Wels, ein anderes Mal latschte er mitten durch einen großen Alpensee.

Virtuelle Freundschaften im Metaversum

Die von den Pikmin mitgebrachten Gegenstände können ins Inventar aufgenommen werden, indem sich die virtuellen Freunde versammeln, um ihre Mitbringsel dem Spieler darzureichen. In dieser Ansicht ist es auch möglich, die Pikmin anzutippen, um mit ihnen zu "spielen". Und Nektarbälle können ihnen zugeworfen werden, woraufhin ihnen größere Blüten aus den Köpfen heraus wachsen.

So sieht es aus, wenn die Pikmin per AR-Modus durch einen Wiener Park tollen.
Foto: Screenshot/Niantic

Das alles ist freilich auch in einem AR-Modus möglich, so dass die putzigen Kerlchen auf dem eigenen Esstisch oder der eigenen Couch Platz nehmen. Das ist die ersten Male natürlich irgendwie nett – aber der Neuigkeitswert nutzt sich ehrlich gesagt sehr schnell ab, das Konzept erinnert zu stark an die Interaktion mit den Pokémon, und das Füttern der Pikmin fühlt sich irgendwann nur noch wie Arbeit und weniger wie ein Spiel an.

Die Interaktion mit den echten Menschen ist übrigens nach aktuellem Stand auf die bereits beschriebenen Möglichkeiten beschränkt: Man sieht, dass andere Leute Blumen gepflanzt haben, und Freunden kann man Postkarten schicken. Mehr gibt es nicht, also weder Kämpfe noch Tauschmöglichkeiten. Hier fehlt also ein wenig der Reiz, sich überhaupt eine Freundesliste anzulegen.

Hey Niantic, wir müssen über Datenschutz reden

Und dann müssen wir noch über ein Thema sprechen, das wohl bei allen AR-Spielen relevant ist, bei Pikmin aber nochmals besonders schwer wiegt: Der Datenschutz. Denn es sind nicht gerade wenig Zugriffsrechte, die Niantic seinen Spielerinnen und Spielern abverlangt.

So funktioniert das Spiel freilich nur, wenn es Zugriff auf den Standort des Users bekommt. Und das Spielen mit den Kumpels in der AR-Umgebung ist freilich nur bei aktivierter Kamera möglich. Wer außerdem möchte, dass das Spiel auch dann die Schritte zählt, wenn es gerade nicht öffnet, der muss Niantic außerdem den Zugriff auf die smartphone-eigene Gesundheits-App erlauben, in welche der Schrittzähler integriert ist.

Und im Sinne des Feel-Good-Konzepts des Journaling ermöglicht Pikmin Bloom schließlich, den eigenen Tag zu dokumentieren – inklusive aktueller Stimmungslage und Fotos, die am besagten Tag gemacht wurden. Um dies in vollem Umfang zu ermöglichen, will die App freilich auf die eigene Fotosammlung zugreifen.

Blumen als Stalking-Gefahr

In der eigenen Datenschutzerklärung begründet Niantic das Sammeln von Daten unter anderem so: "Um Werbung zu personalisieren, die Sie in unseren Apps sehen, damit sie für Sie relevanter ist, und um gesponserte Geschenke mit Nachrichten und/oder Angeboten unserer Werbetreibenden, die für Ihre Umgebung relevant sind, auf der Spielkarte anzuzeigen." Geschenke und personalisierte Werbung können in den jeweiligen Apps aber deaktiviert werden, heißt es weiter.

Die Pikmin wollen auf meine Fotos zugreifen.
Foto: Screenshot/Niantic

Die Daten werden laut Datenschutzerklärung außerdem mit Partnerunternehmen geteilt, um zum Beispiel Marketingkampagnen durchzuführen. Anonyme Daten werden mit Dritten für Marktanalysen verwendet. Gespeichert werden die Daten laut Niantic, solange sie benötigt werden, um die Dienste zu erbringen – wird ein etwaiger Account also gelöscht, so sollten auch die dazugehörigen Daten gelöscht oder zumindest anonymisiert werden.

Ergänzend zu den besagten Punkten kommt bei Pikmin Bloom jedoch noch ein Aspekt hinzu, den es bei den anderen Niantic-Spielen nicht gibt: Das Pflanzen der virtuellen Blumen, die für jedermann sichtbar sind. In dünn besiedelten Gebieten wäre es somit eventuell möglich, die Spazierrouten und Wohnorte diverser Spielerinnen und Spieler ausfindig zu machen. Empfehlenswert ist daher, mit dem Blumenpflanzen erst aber einer gewissen Distanz zum eigenen Wohnort zu beginnen – oder es gleich ganz bleiben zu lassen.

Fazit: More of the same

Dieser Testbericht entstand im November 2021, im zweiten Herbst der Coronapandemie. Das Wort "Lockdown" ist in aller Munde, die Inzidenz ist auf Rekordniveau – und somit das Bedürfnis, sich einen Zeitvertreib als Alternative zu nächtlichen Hardcore-Raves zu suchen. Somit will ein Teil meines Gehirns dieses Spiel unbedingt als passenden Pandemie-Zeitvertreib anpreisen und eine Empfehlung aussprechen. Aber ich tue mich schwer damit.

Denn das Niantic-Erfolgsrezept ist in den vergangenen Jahren ein wenig zu oft wiederholt und kopiert worden, und somit kommt bei vielen Elementen des Spiels nur noch ein ermüdendes "More of the same"-Gefühl auf. Hinzu kommt, dass Pikmin Bloom leider nicht nur wie eine eine Kopie von Pokémon Go wirkt – sondern wie eine, bei der die unterhaltsamen Elemente weg gelassen und der Fokus auf einen Punkt gelegt wird, der nach eineinhalb Jahren Dauerlatschen selbst fanatischen Flanierern wie immer zum Hals heraus hängt. Bei anderen Spielen kann ich wenigstens gegen andere Spieler kämpfen (wie bei Pokémon Go), oder es werden mir unterhaltsame Geschichten erzählt (wie bei The Witcher: Monster Slayer). Aber bei Pikmin Boom fühlen sich so gut wie alle Spielelemente nach kurzer Zeit wie eine lästige Pflicht an.

Niantic ist daher gut beraten, das Spiel noch um unterhaltsamere Aspekte – wie etwa kompetitive Elemente – zu erweitern. Ansonsten dürfte die Pikmin wohl schon bald das gleiche Schicksal ereilen wie Harry Potter. (Stefan Mey, 14.11.2021)