Damals wie heute übt ein Staat seine Souveränität an der Grenze nicht aus – mit weitreichenden Auswirkungen, sagen die Historiker Michal Frankl und Lidia Zessin-Jurek im Gastkommentar

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Tausende Menschen sitzen im Grenzgebiet bei Temperaturen um den Gefrierpunkt fest. Sicherheitskräfte verhindern illegale Grenzübertritte.
Foto: Reuters / Policja Podlaska

Jan Karski verfasste im Dezember 1939 einen Bericht über die Zustände entlang der infolge des Hitler-Stalin-Pakts festgelegten deutsch-sowjetischen Demarkationslinie, die Polen in zwei Besatzungszonen geteilt hatte. Darin beschrieb er das Schicksal zumeist jüdischer Flüchtlinge, die von Grenzeinheiten des NKWD nicht in die Sowjetunion gelassen und von der deutschen Wehrmacht an der Rückkehr gehindert wurden: "Ein Teil schlief, ein anderer Teil wartete, bis er an der Reihe war, da man sich gegenseitig die Decken lieh. (...) Einige Hundert Menschen, darunter Kinder, Frauen und alte Menschen, liefen stundenlang oder trotteten auf der Stelle, denn wenn sie stehenblieben, würden sie erfrieren (...). Alle froren, verzweifelt, gedankenlos, hungrig. Ein Haufen gequälter Tiere – keine Menschen."

Die Demarkationslinie schuf im Herbst 1939 ein hunderte Kilometer langes Niemandsland, in dem tausende geflüchteter polnischer Staatsbürger – die meisten Juden – gefangen waren. Ende der 1930er-Jahre visualisierte das Niemandsland die Radikalisierung der antijüdischen Politik im NS-Deutschland, die Ausbürgerung der Juden sowie den Zerfall des brüchigen europäischen Flüchtlingsregimes der Zwischenkriegszeit. Die Schaffung solcher Zonen des Dazwischen war Folge der Aufgabe von Verantwortung für jüdische Flüchtlinge. Diese Form räumlicher Segregation verlieh der menschlichen Erfahrung der Flüchtenden eine neue Dimension von Ausgrenzung und Demütigung.

Beunruhigende Parallelen

Die dramatischen Bilder, die im Herbst 2021 an der Grenze zwischen Belarus (Weißrussland) und Polen von beiden Staaten erzeugt werden, zeigen Menschen aus dem Nahen Osten, die zwischen den Grenzposten in einem neuen Niemandsland festgehalten werden. Wie die Flüchtlinge des Herbstes 1939 kampieren sie bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf Feldern und in Wäldern. Unterkühlung, Hunger und Krankheit führten im Herbst 1939 ebenso wie heute im neuen Niemandsland zu Erschöpfung und Tod. Die unfreiwilligen Bewohner dieser Zone erlitten neben den physischen Strapazen auch einen psychischen Schock. Er traf damals wie heute auch diejenigen Beobachter, die versuchen, sich ein Bild davon zu machen, was das menschliche Leid im Dazwischen bedeutet.

Man könnte auf die strukturellen Unterschiede zur gegenwärtigen Situation verweisen. Die heutigen Flüchtlinge kommen von weit her an die gemeinsame europäische Außengrenze. Die Genfer Konvention sieht das Recht auf Asyl für Verfolgte sowie das Recht auf eine staatliche Prüfung eines solchen Anspruchs vor. Auch ist Belarus trotz der dort herrschenden tyrannischen, Menschenrechte verletzenden Diktatur hinsichtlich des eigenen geopolitischen Einflusses, der Kriegsbereitschaft und der rassistischen Ideologie nicht mit NS-Deutschland vergleichbar. Die Parallelen sind jedoch beunruhigend.

"Das Niemandsland-Phänomen führt zu einer Situation, in der ein Staat seine Souveränität an der Grenze nicht ausübt."

Damals wie heute dient die Verwischung der genauen Grenze nicht nur zur Abwehr gegen die als unerwünscht geltenden Ausländer, sondern hat Auswirkungen auf die Rechte und Gleichberechtigung innerhalb des Staates. In der sogenannten Polenaktion hatte das Deutsche Reich im Oktober 1938 mehrere Tausend in Deutschland ansässige polnische Juden vertrieben, und Tausende strandeten im Niemandsland in Bentschen (Zbąszyń). Polen verweigerte die Verantwortlichkeit gegenüber den eigenen Staatsbürgern: Das Niemandsland wurde zu einem Schauplatz der ethnonationalistischen Umwandlung der Staatsbürgerschaft.

Viele sind überzeugt, dass die europäischen Staaten ihre Souveränität schützen, indem sie ihre Grenzen hermetisch abriegeln. Das Niemandsland-Phänomen führt jedoch zum Gegenteil: einer Situation, in der ein Staat seine Souveränität an der Grenze nicht ausübt. Das zeigt das polnische Beispiel: Die Regierung setzte schon im Sommer die Wirksamkeit polnischer Gesetze an der Grenze zu Belarus aus, bevor sie im September zum ersten Mal seit 1981 den Ausnahmezustand einführte. Die angebliche Bedrohung führte zur Nichtanwendung des geltenden Rechts. Darunter leidet nicht nur das Asylrecht in der Europäischen Union, sondern auch die polnische Rechtsstaatlichkeit und Souveränität selbst.

Konstruierter Kampf

Die polnische Staatsführung nutzt zudem die Bilder von den im Niemandsland Festsitzenden, um ihre Herrschaft nach innen mithilfe von Angst und Verschwörungstheorien zu stützen. An die Stelle antisemitischer Theorien der Vorkriegszeit tritt die Verschwörungstheorie "vom großen Austausch", nach der eine gesteuerte Masseneinwanderung außereuropäischer Völker zu einer kulturellen Umwandlung Europas führen soll. Ein konstruierter Kampf der Zivilisationen legitimiert die Verteidigung mit außergewöhnlichen militärischen Mitteln und damit die Schaffung von rechtsfreien Zonen.

Einer auf solchen Theorien basierenden Staatsräson zufolge dürfen auch humanitäre Reflexe wie die Versorgung mit Lebensmitteln oder die Bereitstellung provisorischer Unterkünfte unterdrückt werden. Dank des Ausnahmezustandes kann auch den eigenen Bürgerinnen und Bürgern, Vertretern von Hilfsorganisationen, Ärzten, Politikern und Journalisten der Zutritt zur Grenzregion verweigert werden. Die polnische Gesellschaft wurde im Herbst 2021 zu einem ohnmächtigen Zeugen menschlichen Leids an den Außengrenzen. Jedoch bleibt die Wirkung des Niemandslands nicht nur auf die Peripherie beschränkt: Wie 1939 erzeugt dieses nicht nur unter den dort festgehaltenen Flüchtlingen Leid und Elend, sondern greift auch die Werte und Rechte der Polen und Europäer an.

Trotz der Bemühungen der polnischen Regierung, das Niemandsland durch die Abriegelung der Grenze unsichtbar zu machen, muss Europa diese blinden Flecke der Rechtsstaatlichkeit im Blick behalten und für die Anwendung gültiger Rechtsstandards eintreten. (Michal Frankl, Lidia Zessin-Jurek, 14.11.2021)