Migrationsforscher Gerald Knaus skizziert in seinem Gastkommentar wie die Europäische Union auf die Eskalation an der polnischen Grenze reagieren sollte.

Es sind schockierende Bilder, die uns von der polnisch-belarussischen Grenze erreichen: Stacheldrahtzäune, tausende polnische Grenztruppen, Drohnen und Hubschrauber, belarussisches Militär und dazwischen frierende Migranten, die von einem kriminellen Regime angelockt wurden und nun in der Falle sitzen. Am Donnerstag erfror ein 14-jähriger Junge, er war nicht der erste.

Gefangen an der Grenze zu Polen: Migrantinnen und Migranten sitzen im Niemandsland in der Falle.
Foto: Imago Images /Itar-Tass

In der Falle sitzt auch die Europäische Union. Denn entweder verrät sie ihre eigenen Werte und setzt auf unmenschliche Behandlung der Migranten und Pushbacks zwischen Polen und Belarus. Dies geschieht bereits und wird vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, aber auch der russischen Propaganda weidlich ausgeschlachtet, nach dem Motto: Ihr seid nichts als Heuchler, und euer Gerede von Menschenrechten ist nichts wert. Es ist eine Situation entstanden, die besser läuft, als Lukaschenko es sich erträumen konnte: Die EU ist in Panik, greift zur Gewalt und verletzt ihre eigenen Gesetze.

Oder aber die EU knickt ein und erklärt sich bereit, mit Lukaschenko über die Aufhebung oder zumindest weitgehende Rücknahme der Sanktionen gegen Belarus zu verhandeln. Wir erinnern uns: Diese wurden verhängt, nachdem hunderttausende Belarussen letztes Jahr gegen eine offensichtlich gefälschte Präsidentenwahl protestierten. Tausende wurden verprügelt, verhaftet, gefoltert. Ein Oppositioneller wurde in Kiew erhängt in einem Park aufgefunden. Die belarussische Luftwaffe zwang ein Passagierflugzeug zur Landung, weil sich ein oppositioneller Blogger an Bord befand, der später mit Folterspuren im Gesicht im belarussischen Fernsehen mit zitternder Stimme sagte, Lukaschenko tue "das Richtige".

Unmenschliche Behandlung

Wie also kann sich die EU aus dieser Falle befreien? Rechtlich ist der Fall klar. Die EU-Grundrechtecharta verbietet das Zurückstoßen von Menschen in lebensgefährliche oder entwürdigende Situationen ebenso wie die Kinderrechts-, die Europäische Menschenrechts- und die Flüchtlingskonvention. Dazu gilt Artikel 4 des Schengenkodex. Unmenschliche Behandlung an der Grenze, zum Zweck der Abschreckung, ist nicht nur unmoralisch, sondern auch illegal. Und Lukaschenko ist, im Gegensatz zu anderen Staaten, in die in den letzten Jahren Pushbacks erfolgten – Bosnien, Serbien, die Türkei –, dazu bereit, Menschen seinerseits dort festzuhalten und erfrieren zu lassen.

"Die EU sollte die Ukraine und andere Nicht-EU-Staaten dafür gewinnen, die an der polnischen Grenze aufgegriffenen Menschen nach einem Stichtag aufzunehmen."

Die EU darf daher weder mit Lukaschenko über die verhängten Sanktionen verhandeln noch Flüchtlinge an der polnischen Grenze brutal zurückstoßen. Politisch kann dies aber nur funktionieren, wenn gleichzeitig sichergestellt ist, dass sich die polnische Grenze nicht zu einem tödlichen Magneten entwickelt. Wenn jetzt alle 4000 Menschen, die dort sind, in die EU aufgenommen würden, ohne weitere Strategie, könnten in vier Wochen, bei noch tieferen Temperaturen, 10.000 Menschen an der Grenze stehen. Polen und andere in der EU würden daher einer einfachen Öffnung der Grenze nicht zustimmen.

Daher sollte die EU die Ukraine und andere Nicht-EU-Staaten dafür gewinnen, die an der polnischen Grenze aufgegriffenen Menschen nach einem Stichtag aufzunehmen: und zeigen, dass sie weder gewissen- noch machtlos ist. Dabei geht es nicht darum, die Menschen in einem armen Land "abzuladen", sondern der Methode Lukaschenko etwas entgegenzusetzen und Menschen ohne Gewalt zu entmutigen, sich auf das potenziell lebensgefährliche Spiel eines skrupellosen Machthabers einzulassen. Und in die Falle eines Diktators zu geraten, der sie, ohne mit der Wimper zu zucken, sterben lassen würde, um seine Ziele zu erreichen.

Strategischer Partner

Warum sollte sich aber gerade die Ukraine bereiterklären, Migranten aufzunehmen? Es ist im vitalen Interesse der Ukraine, dass die EU nicht erpressbar ist. Denn sollte das aktuelle Beispiel Schule machen, was würde Russland von erneuten Aggressionen gegen die Ukraine abhalten, wenn nur ein paar Tausend Migranten an die Grenze zu z. B. den baltischen Staaten gebracht werden müssten, um Sanktionsdrohungen verpuffen zu lassen und die EU zum Schweigen zu bringen?

Die aktuelle Krise bietet der Ukraine die Chance, sich ohne große Kosten als strategischer Partner der EU zu positionieren. Dafür muss sie klarmachen, was sie von der EU fordert. Inhalt einer EU-Ukraine-Erklärung sollte in jedem Fall eine engere Kooperation sein, von der weiteren Öffnung des gemeinsamen Marktes über ein Inaussichtstellen Brüsseler Kohäsionsmittel, die Aufnahme von belarussischen Flüchtlingen, die derzeit in der Ukraine sind, bis zur finanziellen Unterstützung der 1,5 Millionen Binnenvertriebenen. Es wäre eine Bestätigung der Wichtigkeit der Zusammenarbeit mit benachbarten Demokratien: ein Antierpressungspakt gegen Minsk und Moskau. Und der Bedeutung der Menschenwürde auch an Grenzen.

Besser versorgen

Dazu kommt, dass wir noch über wenige Menschen sprechen. Sind derzeit etwa 4000 im Grenzgebiet, wäre das nicht einmal die Hälfte der Zahl derer, die im Oktober 2015 pro Tag nach Österreich und dann Deutschland kamen. Die Bilder von jungen Männern, die versuchen, die polnischen Grenzsperren zu überwinden, sind Teil einer Inszenierung Lukaschenkos, um die EU in Panik vor einer "Masseninvasion" zu versetzen, die es gar nicht gibt. Würden nach einem Stichtag tatsächlich Flugzeuge von Warschau nach Kiew fliegen, um Migranten dorthin zu bringen, bräche der Anreiz, sich auf Lukaschenkos Lockrufe einzulassen, schnell in sich zusammen. Die Ukraine müsste mit einer Größenordnung von einigen Hundert bis Tausend Menschen rechnen. Im Gegenzug übernähme die EU auch alle Kosten jener, die die Ukraine aufnimmt. Es müsste Zugang zu Asylverfahren geben.

Nach der EU-Türkei-Erklärung im März 2016 erhielt die Türkei sechs Milliarden Euro, um dort Millionen syrische Flüchtlinge besser zu versorgen. Dafür nahm sie in den ersten fünf Jahren etwa 2000 Menschen aus Griechenland zurück. Das war alles, was nötig war, um den Anreiz einer potenziell tödlichen Bootsfahrt über die Ägäis zu entfernen. Die Zahl der Toten fiel. Das muss auch jetzt das Ziel der EU sein. Es wäre möglich. (Gerald Knaus, 13.11.2021)