Der Hass in der Bevölkerung ist seit Ausbruch der Pandemie auf einem Rekordwert. Verschwörungstheorien, Gewaltaufrufe im Netz, Verunglimpfung von Politikern. Impfbefürworter versus Impfgegner. Was irgendwann einmal mit einer Diskussion über unterschiedliche Positionen begonnen hat, hat sich längst zu einem Krieg der Anschauungen ausgewachsen, den die Republik wohl in dieser Heftigkeit noch nicht erlebt hat.

Verblasst sind heute die Erinnerungen an den ersten Lockdown. An eine Zeit, als die viral bedingte Ausnahmesituation durchaus auch etwas Positives hatte. Der Alltags-Egoismus wurde merklich zurückgedrängt, und die Krise machte den Blick auf das Wesentliche frei. Doch die Welle der Solidarität ist längst abgeebbt. Nachbarschaftshilfe bedeutet heute schon, dem anderen seine Meinung zu lassen.

Glühwein gibt es diesen Winter nur für Geimpfte und Genesene.
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Die Gesellschaft ist tiefgespalten. Der Riss quer durch alle sozialen Schichten hat Beziehungen zerstört, langjährige Freundschaften sind zerbrochen. Von einem Konsens der gesellschaftlichen Mitte sind wir heute weiter weg denn je. Die Lager sind klar aufgeteilt. Gut und böse. Geimpft und ungeimpft. Und längst wird nicht mehr der Versuch unternommen, Brücken zu schlagen.

Auch von politischer Seite nicht: Einen nicht kontrollierbaren Lockdown für Ungeimpfte zu verhängen wird die dramatische Infektionslage wohl nur bedingt entschärfen, aber mit Sicherheit die Spaltung in der Gesellschaft noch weiter vorantreiben. Rund zwei Millionen Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken kann letztlich nur im Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz stehen.

Diskriminierung

Es sei an jene, rechtlich nicht bindende, Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom Jänner 2021 erinnert, die besagt, dass niemand gegen seinen Willen unter Druck geimpft werden darf. Und: Auszuschließen sei eine Diskriminierung von Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können.

Jene Gruppe der Ungeimpften lässt sich auch nicht genau definieren. Querulanten, Impfgegner, aber auch Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen. Für die letzte Gruppe sieht die Verordnung zwar eine Lockdownbefreiung vor. Doch was ist mit Menschen, die eine Impfung aus religiösen Gründen ablehnen? Daher: Verlangt die heikle Infektionslage nach einer so deutlichen Kontaktreduzierung, so kann die Antwort nur ein Lockdown für alle sein.

Es muss trotz Unverständnisses für Extrempositionen das Gemeinsame vor dem Trennenden stehen. Solidarisch zu sein heißt auch, jenen, die sich in der Impffrage unsolidarisch verhalten, die Hand zu reichen. Ansonsten droht der Solidaritätssockel der Gesellschaft endgültig wegzubrechen.

Ein Lockdown kann auch als Chance gesehen werden: Alle sind wir plötzlich nicht mehr Teil der Gesellschaft. Gezwungen, allein zu sein, kaum Sozialkontakte zu haben. Plötzlich aus der Mitte an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Dorthin, wo ganz ohne Pandemie Menschen leben, die dringend unsere Hilfe benötigen. Menschen mit Krankheiten, Behinderungen. Alte Menschen. Wir alle haben in den letzten Jahren erlebt, wie wir eigentlich nicht leben wollen. Einsam, erfüllt mit Angst. Ein großer Teil von uns darf auf ein Ende dieser Ausnahmesituation hoffen. Für einen Teil der Gesellschaft ist die Ausnahmesituation längst der Normalzustand. (Markus Rohrhofer, 15.11.2021)