Schutzbach: "Wenn wir die Erschöpfung als individuelles Problem wahrnehmen, dann werden wir auch keine politischen Forderungen stellen."

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Aus der positiven Nachricht, dass Frauen heute alles tun könnten, ist inzwischen auch eine Anforderung geworden: nämlich alles tun zu müssen, und das bitte möglichst perfekt. Franziska Schutzbach zeigt für zahlreiche Bereiche unseres Lebens – von Sexualität über Job bis hin zur Mutterschaft – auf, wodurch die Kräfte von Frauen versiegen und warum es hilft zu wissen, dass es anderen genauso geht.

STANDARD: Warum sind Frauen gerade heute besonders erschöpft?

Schutzbach: In vielen Familien müssen alle Geld verdienen, um über die Runden zu kommen. Frauen sind somit nicht nur aus Gründen der Selbstverwirklichung stärker in den Arbeitsmarkt hineingegangen. Was sich aber nicht verändert hat, ist, dass andere Menschen betreut werden müssen. Der Bedarf nach Sorgearbeit ist sogar noch gestiegen, weil Menschen immer älter werden und die Sozialsysteme teilweise abgebaut wurden. Durch die Orientierung des gesamten Lebens an der Erwerbsarbeit entsteht ein massiver Zeitmangel für das Kümmern, die Betreuung von Kindern, die Pflege alter Menschen, das Putzen. Es gibt strukturell eine Unvereinbarkeit dieser beiden Sphären.

Für Frauen ist der Druck besonders hoch, alles gut machen zu wollen und niemanden zu vernachlässigen. Die Politologin Katharine Debus spricht von der "Allzuständigkeit der Frauen": Sie sollen emanzipierte Rollenbilder abgeben, doch gleichzeitig hat sich an den gesellschaftlichen Aufträgen an Frauen nichts geändert. Im Zuge von Corona ist es nochmal deutlicher geworfen, wie stark Frauen als Puffer fungieren und wie sie die Dinge auffangen, die vom Sozialstaat oder der Gesellschaft nicht aufgefangen werden. Die Bedürftigkeit von Menschen wird ins Privatkrankenhaus Mutter abgeschoben, und die Frauen machen es ja auch.

Franziska Schutzbach: "Selbstoptimierung hat für Frauen manchmal selbstermächtigende Momente."
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STANDARD: Warum machen Frauen da noch immer mit?

Schutzbach: Von Frauen werden Gefühle, Empathie und Beziehungshandeln erwartet. Wenn sie das nicht liefern, hat das negative Konsequenzen für sie – das zeigen Studien. Frauen dürfen Karriere machen, aber nicht zu "gefühlskalt" sein, und schon gar nicht die Familie vernachlässigen, das fällt extrem negativ auf sie zurück. Frauen können nicht einfach sagen, das mache ich nicht. Es ist anmaßend zu verlangen, doch einfach weniger Gefühlsarbeit zu machen in einer Welt, die Weiblichkeit mit Gefühlshandeln gleichsetzt und Sorgearbeit als inhärenten Bestandteil des Frauseins bestimmt. All das zu vernachlässigen bedeutet für Frauen, ihren Subjektstatus zu gefährden, die eigene Daseinsberechtigung. Und wer macht das schon so leicht?

Wenn man streikt und der ICE nicht von A nach B fährt, dann nervt das zweifelsohne viele Menschen. Aber was, wenn Sorgearbeit liegen bleibt? Wenn Kindern nicht bei den Hausaufgaben geholfen, ihnen nicht nachgerannt wird, wenn sie über die Straße laufen wollen? Wenn die Großmutter wichtige Medizin nicht bekommt? Hinzu kommt, dass man in diese Arbeit auch emotional stark involviert und verstrickt ist. Sie nicht zu tun löst großes Leid bei anderen aus. Man kann sie nicht nicht machen.

STANDARD: Sie haben von Gefühlsarbeit gesprochen. Was meinen Sie damit?

Schutzbach: Frauen sind viel eher diejenigen, die dafür sorgen, dass über Probleme gesprochen wird, dass Harmonie hergestellt wird. Diese Gefühlsarbeiten sind derart unsichtbar, dass wir gar nicht realisieren, dass wir sie dauernd machen und uns ständig an den Bedürfnissen anderer ausrichten. Dadurch haben wir weniger Zeit für uns, weniger Pausen. Sozial schwierige Situationen verursachen Stress, trotzdem nehmen wir das nicht als Arbeit wahr, sondern als etwas, was einfach intuitiv tun. Die Erschöpfung in Bezug auf emotionales Engagement gibt es nicht nur im Privaten, sondern auch in Berufen, in denen Beziehungsarbeit geleistet werden muss. Im Sozialbereich, in Pflege- und Dienstleistungsberufen arbeiten mehrheitlich Frauen. Solche Berufe sind anstrengend, und die Menschen dort sind auch anfälliger für Burnout.

Die Soziologin Arlie Hochschild hat schon in den 1980ern anhand von Flugbegleiterinnen gezeigt, dass Menschen in Berufen, in denen dauernd gelächelt werden muss, obwohl einer nicht danach ist, in denen man dauernd über die eigene Gefühlslage hinaus arbeiten muss, über alle Maßen erschöpfen sind.

STANDARD: Warum lassen sich Frauen offenbar auch in anderen Bereichen so unter Druck setzen?

Schutzbach: Frauen waren schon immer besonders der Bewertung anderer ausgesetzt. Wie sie aussehen, mit wem sie Kinder haben, ob und wie viele Kinder sie haben, wie sie Sex haben. Weiblichkeit ist in der bürgerlichen Gesellschaft als etwas entstanden, was die Abweichung vom Mann ist und deshalb auch permanent unter Beobachtung steht. Das zeigt sich etwa in Bezug auf Aussehen. Studien zeigen, dass sich praktisch jede Frau in ihrem Körper unwohl fühlt. Die Erwartungen an ihr Aussehen erschöpfen Frauen ganz anders. Oder Ansprüche auf sexuelle Verfügbarkeit, die im öffentlichen Raum beobachtbar sind, wenn sie belästigt werden. Frauen müssen sich ständig dazu verhalten, irgendwas antworten, die Straßenseite wechseln, sich wehren. Und wie oft erleben es Frauen, dass auf der Straße ihre Körper bewertet werden? Frauen sind ständig Gegenstand von Bewertungslogiken. Auch das ist, wie ich in meinem Buch zeige, stark erschöpfend.

STANDARD: Heißt das auch, dass Frauen Fortschritte bei der Gleichberechtigung gerade um die Ohren fliegen?

Schutzbach: Angela McRobbie nennt das die "Fratze der Emanzipation", denn das Bild der ökonomisch unabhängigen, selbstbestimmten Powerfrau ist von den meisten gar nicht umsetzbar. Es gab einseitige Fortschritte. Dass wir Geld verdienen, Karrieren machen, an die Unis können, das ist natürlich super. Aber wenn es in einem anderen Bereich keine Fortschritte gibt, wenn etwa die Gesellschaft Sorgearbeit weiter als die weniger wertvollen Bereiche abwertet, dann ist das ein Problem. Also ja, es fällt uns auf die Füße, wenn aus Gleichberechtigung eine Art von Perfektionsstreben gemacht wird, ohne die strukturellen Bedingungen zu verändern, in denen alle Menschen leben müssen.

STANDARD: Warum blieben die Fortschritte einseitig?

Schutzbach: Die Wirtschaft ist nicht an Sorgearbeit orientiert, sie berücksichtigt nicht, dass die auch gemacht werden muss, obwohl wir ohne sie nichts produzieren könnten. Es ist im Interesse der Wirtschaft, dass Sorgearbeit gratis gemacht wird und sie auch noch als Frauensache definiert ist. Das Bild der fürsorglichen Frau, die aus Liebe die Sorgearbeit übernimmt und die weltweit Milliarden Stunden Sorgearbeit pro Tag einfach gratis übernimmt, das ist natürlich ein sehr profitables Konzept.

STANDARD: Heute gibt es überall Tipps, wie wir unseren stressigen Alltag gesünder, ausgeglichener und effizienter durchstehen. Warum kommt das derart gut an?

Schutzbach: Ich möchte das nicht nur abwerten. Selbstoptimierung kann in einer Welt, in der sich die Einzelnen teils ohnmächtig gegenüber den großen Systemfragen fühlen – vom Klimawandel bis hin zu ausbeuterischen Wirtschaftssystemen –, auch helfen. Insofern hat Selbstoptimierung für Frauen manchmal selbstermächtigende Momente. Viele ziehen daraus, dass sie wenigstens noch handlungsmächtig sind, wenn sie ihre Yogaübungen machen und gesund leben. Die negative Seite ist, dass damit die Ursprünge der Erschöpfung nicht mehr sichtbar sind und als individuelle Probleme wahrgenommen werden. Wir versuchen, sämtliche Work-Life-Balance-Regeln zu befolgen, trotzdem sind die allermeisten erschöpft, weil es ein Problem ist, das im System selbst angelegt ist. Diese Angebote nach individueller Optimierung sind auch Teil einer neoliberalen Erzählung, von der wir sehr stark geprägt sind. Du musst dein Leben als Erfolgsstory erzählen, wenn du dich nur genug anstrengst, dann wird alles in deinem Leben super werden. Damit wird unsichtbar, dass es massiv davon abhängt, ob man aus der "richtigen" Familie kommt, genug gefördert wird, weiß ist oder nicht, Migrantin ist oder nicht. Wenn wir die Erschöpfung als individuelles Problem wahrnehmen, dann werden wir auch keine politischen Forderungen stellen, sondern wir werden einfach brav unsere Yogaübungen machen. Das ist sehr entpolitisierend.

FranziskaSchutzbach, "Die Erschöpfung der Frauen". € 18,– / 304 Seiten. Droemer, 2021
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STANDARD: Sie behandeln in Ihrem Buch ausführlich das Thema Selbstvertrauen. Warum ist Selbstvertrauen von Frauen auch heute noch so mies?

Schutzbach: Frauen waren lange Zeit nicht mal als Menschen konzipiert. Der Mann war der Bürger, der Mensch, er war der Träger von Rechten. Frauen waren das Abweichende, sie wurden auf den Körper reduziert, auf angeblich minderwertigere Tätigkeiten wie Kinder zu gebären und zu betreuen. Von Platon bis Aristoteles – die Texte sind voll von diesem Naserümpfen über alles, was nicht geistige Männlichkeit ist. Darwin hat behauptet, dass Männer das überlegene Geschlecht sind, weil sie ihre Gene nur an ihre Söhne weitervererben, und die Frauen vererben quasi dieses ganze Gefühlsduselige weiter. Der Kanon, auf den wir uns in der abendländischen Kultur beziehen, ist mehrheitlich frauenabwertend, und es überrascht deshalb nicht, dass diese Minderwertigkeitsgefühle nicht innerhalb einer Generation abgebaut wurden. Frauen haben bis heute die Sorge, nicht zu genügen. Und sie werden auch bis heute schlechter bewertet. Studien zeigen etwa, dass Lebensläufe von Frauen bei gleicher Qualifikation schlechter bewertet werden.

Es gibt auch den "stereotype threat": Wenn dauernd wiederholt wird, Frauen sind nicht gut in Technik, sind sie es eben dann tatsächlich nicht, weil sie es sich nicht zutrauen beziehungsweise eben Angst vor Mathe haben. Dieser vorauseilende Gehorsam gegenüber einem Stereotyp lähmt Frauen sehr und ist ein riesiger Energieverschleiß. Viele Frauen und Mädchen sind aufgrund fortbestehender negativen Frauenbilder sehr fehlerorientiert und schauen erst mal, was sie nicht gut gemacht haben. Deshalb steckt ein großer Teil der Frauen Energie in die Vermeidung von Fehlern, anstatt sich darauf zu konzentrieren, was sie gut machen. Diese Selbstwertproblematik ist für Erschöpfung zentral. Viele Frauen haben einen extremen Druck, sich beweisen zu müssen, und eine riesige Angst, dabei zu versagen.

STANDARD: Wie könnten wir die kollektive Erschöpfung in politisches Handeln übersetzen?

Schutzbach: Ich glaube, wir müssen erst mal diese Erschöpfung analysieren, das heißt beim Negativen bleiben und nicht gleich mit der optimalen Lösung daherkommen wie viele Ratgeber. Das ist ein wichtiges politisches Moment. Sich bewusst zu werden, dass es kein individuelles Problem ist, sondern eine kollektive Erfahrung – auch wenn diese sehr unterschiedlich ausfallen kann. Auf dieser Grundlage ist es möglich, politische Kraft zu schöpfen, denn es ist sehr empowernd zu realisieren, dass man nicht erschöpft ist, weil man individuell etwas falsch macht. Sich politisch für Veränderung einzusetzen bedeutet aber nicht, dass wir gleich maximale Umbruchbewegungen starten müssen, das ist ja auch ein sehr männlicher Anspruch nach einer Revolution. Und es ist auch wieder sehr erschöpfend zu denken, ich muss jetzt eine Revolution starten. Wir müssen vorsichtig sein, nicht wieder neuen Druck auf Frauen zu generieren. Ich plädiere für sogenanntes Mikrohandeln, sich zusammenzuschließen, das Bewusstsein schärfen, diskutieren, eine Lesegruppe gründen. Ich habe mich als junge Mutter wenigstens einmal im Monat mit Freundinnen zum "feministischen Kaffee" getroffen, dort haben wir kurze Textauszüge aus feministischen Büchern gelesen und darüber diskutiert. Es ist ein wichtiger politischer Akt gegen Erschöpfung, nicht zu vereinzeln, über geteilte Erfahrungen zu reden und ein gesellschaftspolitisches Bewusstsein zu entwickeln. Das kann auch in einem kleinen Rahmen stattfinden, und es verändert vieles. In diesem Sinne: Solidarisch sein und sich verbünden, das ist wichtig. Es ist eine wichtige Voraussetzung für einen Wandel im großen Stil. (Beate Hausbichler, 22.11.2021)