Kiran Zhu studierte in Mailand Design und ist Mitbegründer von "Ziinlife", deren Möbel vor allem bei jungen Familien in chinesischen Metropolen sehr beliebt sind.

Foto: Ziinlife

Eine Bank vom Designkollektiv Buzao, deren Objekte sich an internationale Sammler richtet.

Foto: Buzao

"Im Himmel", sagt man in China, "gibt es das Paradies. Auf der Erde gibt es Suzhou und Hangzhou." Wer einmal zu Besuch war, weiß warum: Die beiden Städte an der Ostküste des Landes sind gewissermaßen nationales Kulturgut. In der Song-Dynastie war Hangzhou die Hauptstadt des Landes, ein Hochamt von Kultur und Ästhetik. Und heute? Schickt sich die Stadt vor den Toren Shanghais an, wieder an der Spitze des Landes zu stehen. Zumindest in Sachen Design.

In den vergangenen Jahren hat sich in Hangzhou eine Riege unabhängiger Gestalter etabliert, die dem abschätzigen Bild, das der Westen oft von "Made in China" hat, entschieden entgegentreten. Zu ihnen gehört auch Min Chen. Der Designer kommt aus einer angesehenen Künstlerfamilie.

Der Großvater war Vizepräsident der chinesischen Kunstakademie, hielt den Enkel aber nicht für talentiert genug. Mit 21 Jahren ging Chen deshalb nach Deutschland und studierte Design in Köln. Anschließend lernte er bei Ilse Crawford in Eindhoven und an der Mailänder Domus-Akademie. Vor neun Jahren gründete er sein Studio in Hangzhou.

Altes Handwerk

Min Chen hat sich einen Namen gemacht, weil er altes Handwerk mit ästhetischer Raffinesse in die Gegenwart bringt. Seine Arbeiten wurden im Nationalmuseum von China, dem Louvre in Paris und der Triennale in Mailand ausgestellt. Den traditionellen Ming Chair – ein Sinnbild für Handwerk, Kultur und Ästhetik – setzte er als Bausatz neu zusammen; alte Holzfenster bringt er mit LED zum Leuchten. Seinen Durchbruch aber hatte er mit "Hangzhou", einem Hocker aus 16 hauchdünnen Bambusfurnieren, die bogenförmig nach unten gehen und an ihren Enden zusammengeleimt sind.

Avantgarde-Ästhetik von der Designerin Shaw Liu.
Foto: Shaw Liu

"In der Tradition steckt viel Moderne", sagt er und schwärmt von der Universalität des Ulmer Hockers von Max Bill. "Wir müssen sie nur wiederentdecken." Neulich war er in einem Museum in Chengdu und entdeckte ein Service aus Chinalack – einem natürlichen Material, das aus dem Wundsaft des Lackbaumes gewonnen wird.

"Ich kannte das gar nicht", sagt der 41-Jährige. "Ich dachte, das sei Plastik." Nun hat er ein Set aus Schalen in dem Material entworfen. Die Form entstand am Computer, die Farbpalette ist zeitgenössisch, die Textur kehrt den handwerklichen Charakter heraus.

Rasante Urbanisierung

Lange war die Volksrepublik nur die Werkbank des Westens. "Doch in den letzten drei Jahren hat sich chinesisches Design mit rasender Geschwindigkeit entwickelt", sagt Zhuo Tan, die die "Design Shanghai" leitet, die größte Designmesse Asiens. Angetrieben wird dieser Wandel nicht nur von der rasanten Urbanisierung, sondern auch von einer wohlhabenderen, konsumfreudigen und vor allem jungen Mittelschicht, die sich gerade ihre ersten Wohnungen einrichtet.

"Die Käufer sind oft erst Mitte 20, haben im Ausland studiert und stellen andere Ansprüche an Lebensqualität als ihre Eltern", sagt Zhuo Tan. Innerhalb weniger Jahre ist die Möbelbranche so von einer Nischenindustrie zu einem der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes gewachsen.

Kostengünstig und schnell

Nach Schätzungen von McKinsey wird jedes vierte weltweit verkaufte Möbelstück in China produziert. Das machen sich die jungen Designer nun zu Nutze: Sie können auf hocheffiziente Produktionsanlagen und Lieferketten zurückgreifen – ein Ökosystem, das es ihnen ermöglicht, Prototypen kostengünstig und schnell zu realisieren.

Es gibt nur einen kleinen Haken: "Die Hersteller wären zwar in der Lage, Produkte von hoher Qualität zu liefern, sind aber zu schwerfällig im Umgang mit neuen Entwicklungen", sagt Zhuo Tan. Üblicherweise produzieren sie große Mengen innerhalb eines festen technischen Rahmens. Der Pekinger Designer Frank Chou, sagt sie, habe die Suche nach einem passenden Hersteller für sein Sofa deshalb irgendwann aufgegeben. Heute lässt er in Italien fertigen.

Gleich nach dem Studium

Während Designer im Westen häufig erst spät durchstarten, weil sie nach ihrem Studium zunächst in etablierten Studios Erfahrungen sammeln oder gleich zu einem großen Hersteller gehen, machen sich viele Chinesen gleich nach dem Studium selbständig. Der Hunger nach Neuem ist groß, der Druck enorm, aber eben auch die Bereitschaft zu kämpfen.

Mario Tsai zum Beispiel, eines der Talente im Land, arbeitet nach eigenem Bekunden mehr als 100 Stunden in der Woche. Vor sieben Jahren eröffnete der Designer sein Studio in Hangzhou, mit gerade mal Mitte 20. Mit seinem "Soft Minimalism" entledigt sich Tsai in seinen Entwürfen allen Überflusses.

Mario Tsai eröffnete sein Studio mit Mitte 20 und arbeitet nach eigenem Bekunden 100 Stunden pro Woche.
Foto: Mario Tsai

Sein Tisch "Gongzheng" aus Aluminiumprofilen, meterlangen und doch nur wenige Millimeter dick, scheint die Grenzen der Statik zu überwinden. Seine Bank "Grid" aus Sperrholzplatten wirkt massiv und federleicht zugleich. Das "Electricity Light", eine Leuchte aus Glas und Metall, erweckt den Anschein, man könne dem Strom beim Fließen zusehen.

Regierungsförderung

Wie viele Länder hat auch China erkannt, dass Design nicht nur imagefördernd ist, sondern auch die nationale Identität stärken kann. "Die Regierung fördert schon seit längerer Zeit die Eigenständigkeit chinesischen Designs", sagt Ralph Wiegmann, der als Geschäftsführer des International Forums Design Hannover lange in China tätig war. "Sie investiert immense Mittel in die Ausbildung und fördert die Kreativwirtschaft. Das folgt nicht unbedingt den klassischen Kriterien einer freien Marktwirtschaft, ist aber gerade deshalb sehr erfolgreich."

Schon 2013 hatte Xi Jinping in seiner Antrittsrede als Staatschef angekündigt, er wolle die "große Renaissance der chinesischen Nation" einläuten. Dazu gehört auch, Chinas kulturelles Erbe neu aufzuladen. Doch das muss erst mal wieder in die Köpfe der Leute. Das Problem ist, dass die einen im Westen studieren, und die an den Designschulen Chinas lernen mehr über das Bauhaus als über die Schlitz-und-Zapfen-Konstruktionen der Ming-Dynastie. "Ich glaube, wir brauchen noch etwas Zeit, um unsere eigene Ästhetik zu formen, indem wir anfangen, uns unserer eigenen Kultur bewusst zu werden", sagt Tsai, der in Peking Möbeldesign studierte.

Wiederentdeckte Designkultur

Denn während sich im Westen eine moderne Designsprache entwickelte, herrschte in China die Kulturrevolution. Mao Tse-tung folgte der nüchternen Sowjet-Ästhetik, in der Möbel Funktion, aber nicht Emotion hatten. Möbel wurden meistens selbst gemacht. Erst die Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings legte 1978 den Grundstein für ein neues chinesisches Design, das Mitte der neunziger Jahre entstand.

Seither ist die Wiederentdeckung der traditionellen Designkultur einer der Haupttreiber des Wachstums. Heute greifen viele Designer die Proportionen und Verarbeitungsmethoden der späten Song- (960–1279) und Ming-Dynastie (1368–1644) auf. Dieser "Neo-Ming-Stil" spricht vor allem Kunden an, die in den 1950er bis 1970er Jahren geboren wurden und nostalgisch auf die Vergangenheit des großen Reiches zurückblicken.

Frische Ware

"Aber die Lebensrealitäten haben sich seit der Song- und Ming-Dynastie einfach verändert", sagt Yoko Choy, China-Redakteurin des Designmagazins "Wallpaper". "Große Möbel passen nicht mehr in die Wohnzimmer, und außerdem sind junge Menschen heute viel weltoffener." Die Jüngeren wollen frisches Design: Europäische Marken wie Hay, &Tradition und Tom Dixon laufen gut.

Das habe chinesische Hersteller unter Zugzwang gebracht, sagt Messechefin Tan: "In den letzten Jahren beobachten wir eine Evolution nicht nur der Formen, sondern auch der Materialien – weg vom klassischen Design, weg vom Holz hin zu Marmor, Metall und Polsterungen. Ein fast europäischer Look." Teilweise, sagt sie, könne man gar keinen Unterschied mehr festmachen.

Begehrte Möbel

Wenn etwa die Firma Ziinlife in New York ihre Entwürfe zeigt, sind die meisten Besucher überrascht, dass sie aus Shanghai kommt. Ziinlife ist besonders bei jungen Familien in chinesischen Metropolen einer der begehrtesten Möbelhersteller. Das Unternehmen gibt keine regulären Kollektionen heraus, sondern widmet sich jedes Jahr einzelnen Problemen.

"Dann konzentrieren wir uns auf ein oder zwei große Themen, die die Menschen in ihrem Alltag beschäftigen", sagt Kiran Zhu, der als Kind oft beobachtete, wie seine Familienmitglieder Möbel umbauten, um sie praktischer zu machen. Nach dem Studium in Mailand kehrte er nach China zurück und gründete die Marke für erschwingliche, zugängliche Möbel 2013 mit seiner Geschäftspartnerin Lily Yang.

Spielerische Entwürfe

Zu den Bestsellern gehören ein Sessel für kleine Räume, in den man sich auch legen kann; ein Schreibtisch für Kinder, der mitwächst, oder ein Tisch, dessen Unterseite gepolstert ist, damit weder Knie noch Kinder sich stoßen. Viele Entwürfe haben eine spielerische Komponente. Doch der Markt ist hart.

Der "Hangzhou Stool" von Designer Min Chen, der altes Handwerk mit Zeitgenössischem verbindet.
Foto: Min Chen

"Chinesische Verbraucher neigen dazu, sich mehr Gedanken über das Aussehen des Designs als über dessen Qualität zu machen", sagt Yoko Choy. Das rasant wachsende Ökosystem aus Social-Media-Diensten und Marktplätzen wie Taobao und Tmall (China ist der größte E-Commerce-Markt der Welt) hat Designern einen immensen Binnenmarkt eröffnet, der besonders während der Pandemie stark gewachsen ist.

Und dann gibt es da noch die Avantgarde-Ästhetik von Designern wie Shaw Liu oder dem Designkollektiv Buzao, die sich vor allem an internationale Sammler richtet. Shaw Liu entwirft oft auf Hochglanz polierte, verspiegelt-futuristischen Entwürfe wie den monolithischen Sessel "Lost Space" oder die Leuchte "Sanctuary" aus Edelstahl und Alabaster, Buzao experimentiert mit Vulkangestein, gefärbtem Marmor und industriellen Materialien wie galvanisiertem Edelstahl, Verbundglas und Aluminiumschaum.

In der Findungsphase

"Alle Materie existiert bereits, wir können nichts Neues schaffen, nur Essenzen extrahieren", sagt Gründerin Zeng Peng. So kosmopolitisch die Materialstudien wirken, so chinesisch sind sie zuweilen doch. In der Kollektion "Null" färben die Designer Verbundglas ein, um eine Philosophie von Laotse zu reflektieren: dass Existenz und Nichtexistenz keine Dilemmata sind, sondern gegensätzliche Elemente, bei denen das Ende des einen der Anfang des anderen ist.

"Chinesisches Design befindet sich in der Findungsphase. Es ist zu vielfältig, um unter einer Identität erfasst zu werden", sagt Choy. Die Industrialisierung der Volkswirtschaft, der steigende Wohlstand und das wachsende Grundvertrauen in die eigenen Kräfte haben den Boden für eine Generation von Designern bereitet, die mit freiem, unbefangenem Blick auf ihr Land schaut.

Designtreiber

"Über eine Million Chinesen studieren jedes Jahr Design", sagt Ralph Wiegmann. "Wenn auch nur drei Promille von ihnen wirklich talentiert sind, sind wir in zehn Jahren bei einer Zahl, die auf Deutsche und Europäer ein wenig beängstigend wirken könnte." Schon heute komme das Design von Waschmaschinen, Fernsehern oder Kühlschränken zum großen Teil aus China.

"Wir haben ein Sprichwort", sagt Zhuo Tan: "Was dreißig Jahre am östlichen Ufer lag, kann die nächsten dreißig Jahre am westlichen Ufer liegen." Diese Weisheit geht auf den Gelben Fluss zurück, der im Zuge der Geschichte immer wieder sein Bett wechselte. Orte, die vorher östlich des Flusses lagen, befanden sich plötzlich auf der anderen Seite.

Wenn das Land es schafft, traditionelles Handwerk und künstlerische Ästhetik auch in anderen Bereichen zu etablieren, könnte China in zehn Jahren in vielen Branchen Designtreiber sein und das Gestaltungsmonopol des Westens brechen. Die Frage ist also nicht, ob sich der Flusslauf ändert. Die Frage ist nur: wann? (Florian Siebeck, RONDO, 20.11.2021)