Ist Ranas Anwalt erfolgreich, so könnte das eine Präzedenzwirkung für zahlreiche andere Verfahren haben.

Foto: AFP/Patrick T. Fallon

Ans Rana saß auf der Rückbank des Elektroautos seines Bruders, als dieser hinter einem liegen gebliebenen Wagen auf der Interstate 75 in Atlanta stehen blieb. Kurz darauf krachte ein blauer Amazon-Lieferwagen in das Heck des Tesla. Alle drei Insassen – zwei Brüder und ihr Vater – landeten im Spital.

Für Rana war der Crash besonders schwer verlaufen, berichtet Bloomberg. Der 24-Jährige rang mit der Unterstützung von Ärzten und angeschlossen an ein Beatmungsgerät monatelang um sein Leben. Er gewann den Kampf, doch Verletzungen des Hirns und der Wirbelsäule hinterließen ihn gelähmt und angewiesen auf Betreuung. Heute bewegt er sich in einem motorisierten Rollstuhl fort und kann auch einfache Tätigkeiten wie Essen nicht selbst ausführen. Seine Pläne, ein Medizinstudium zu beginnen, musste er an den Nagel hängen. Ob er je wieder in der Lage sein wird, seine Arme bewegen zu können, ist derzeit noch ungewiss.

Wer ist verantwortlich?

Im Juni reichte er eine Klage ein. Nicht gegen den Fahrer des Lieferwagens sondern gegen dessen direkten Arbeitgeber, Harper Logistics, als auch Amazon. Seiner Ansicht nach ist der Handelsriese haftbar für den Unfall, da das von ihm geschaffene Arbeitsumfeld die Zusteller großem Stress aussetzt und solche Unfälle damit provoziert werden. Er will Ersatz für seine durch den Unfall entstandenen Kosten für Behandlung, Therapie und Medikamente sowie Kompensation für sein wohl auf Lebenszeit verringertes Einkommen.

Amazon weist die Verantwortung von sich und zeigt auf das Unternehmen Harper Logistics, bei dem der Fahrer in diesem Fall angestellt war. Es ist eine von zahlreichen Firmen, die gegründet wurden, um im Auftrag von Amazon Logistics die Zustellung für den Konzern abzuwickeln. Doch zumindest in den USA pflegt der Tech-Riese strenge Kontrolle über die Lieferfahrer, auch wenn sie nicht direkt bei ihm angestellt sind.

Umfassende Kontrolle

Darauf stützt auch Ranas Anwalt seine Klage. Er will das Gericht davon überzeugen, dass Amazon trotz der geschäftlichen Konstruktion in Wahrheit die Kontrolle über die Bedingungen bei der Zustellung innehat. Der E-Commerce-Gigant verfolge "jeden Schritt" der Fahrer, von der Fahrgeschwindigkeit, Betätigung der Bremsen, Nutzung des Gurtes über die Verwendung des Handys bis hin zur Nutzung von KI-gestützten Kameras in den Lieferfahrzeugen, die etwa Gähnen erkennen sollen, heißt es in der Klagsschrift.

Weiters würden Angestellte den Lieferdiensten Nachrichten schicken, wenn Fahrer ihrem Zustellplan nachhinken. Laut den Botschaften müssten die Zusteller "gerettet" werden, um den "unrealistischen und gefährlichen Vorstellungen hinsichtlich der [Liefer-]Geschwindigkeit entsprechen zu können".

Unfälle vervierfacht

In der Regel landen Unfälle mit Lieferfahrzeugen in den USA gar nicht erst vor Gericht, sondern werden von Anwälten und der Versicherungen ausverhandelt. Ranas Fall sticht hier heraus, nicht nur aufgrund der schwerwiegenden Folgen, sondern weil Amazon selbst in die Verantwortung genommen werden soll. Andrew Elmore, Rechtsexperte der University of Miami, hält es für möglich, dass Ranas Anwalt damit Erfolg hat.

Setzt er sich durch, könnte das Präzedenzwirkung für eine wachsende Anzahl an Gerichtsverfahren haben, in denen Amazon Logistics nach einem Unfall mit Personenschaden als beschuldigte Partei geführt wird. Alleine für heuer zählt Bloomberg 119 solcher Klagen in 35 US-Bundesstaaten, was – wohl auch pandemiebedingt – bereits eine Vervierfachung im Vergleich zum kompletten Vorjahr darstellt.

Darunter sind auch andere Unfälle mit schwereren Folgen. Ein Mann aus Massachusetts hat im September ebenfalls Klage eingereicht. Er erlitt im Jänner bei einer Kollision mit einem Amazon-Lieferwagen Hirnverletzungen. Laut Klagsschrift soll der Fahrer des Zustellfahrzeugs am Steuer eingeschlafen und auf die andere Straßenseite in den Gegenverkehr geraten sein. Amazon hat hierzu noch keine eigene Darstellung vor Gericht eingebracht.

Amazon verweist auf gesunkene Unfallrate

Das Unternehmen erklärt in einer Stellungnahme, bereits mehr als eine Milliarde Dollar in die Bezahlung, Trainings und Technologie im Zustellbereich investiert zu haben. Mehr als die Hälfte der Lieferfahrzeuge in den USA seien bereits mit Kameras und "anderen Technologien" ausgerüstet, mit denen Echtzeitwarnungen an die Fahrer ausgespielt werden. Damit habe man bereits die Unfallquote signifikant gesenkt und auch andere Probleme wie Fahren ohne Gurt oder das Überfahren roter Ampeln gemildert. Zudem arbeite man mit den Partnerunternehmen zusammen, damit diese "realistische Erwartungen" an ihre Fahrer stellen und sie nicht "unangemessenem Druck" aussetzen.

Weiters betonte man, dass trotz der deutlich gestiegenen Gesamtzahl an unfallbedingten Verfahren die Unfallrate – die Anzahl der Unfälle wird hier in Verhältnis zur zurückgelegten Distanz gesetzt – zwischen Jänner und September im Vergleich zu 2020 gesunken sei. Auf welchem Wert sie liegt, also wie viele Unfälle im Schnitt etwa pro 100 gefahrenen Meilen oder Kilometern zu verzeichnen sind, verriet Amazon aber nicht. (red, 16.11.2021)