"Einer unserer bekanntesten Naturforscher, welcher früher in Paris, seit dem Jahre 1848 in Wien lebte, Herr Ami Boué, ist heute Nachts hier gestorben", schrieb die Neue Freie Presse am 22. November 1881. Wer war dieser Herr Boué aus der Lambrechtsgasse 6 in Wien, der – so die Parte – am "21. November 1881 um ½ 10 Uhr abends, nach langem Leiden im 88. Lebensjahre selig in dem Herrn entschlafen" war.

Boué wurde am 16. März 1794 in Hamburg geboren. Seine Familie stammte aus Frankreich, war wohlhabend und gehörte zu den reichsten Hamburgs. Damit war ihm nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch Französisch in die Wiege gelegt. Es folgten Aufenthalte in Genf, Paris, Edinburgh, wo er Medizin studierte und am 15. August 1817 promovierte, bis hin zu Wien und Berlin. Auskunft über sein Leben und Wirken gibt seine 1879 verfasste Autobiografie, die zu Lebzeiten nicht veröffentlicht werden durfte. Die Verfasserangabe am Titelblatt ist ein Bekenntnis zu Österreich: "Dr. med. Ami Boué, Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, geboren in Hamburg am 16. März 1794 und gestorben als Österreicher in Wien. Der einzige Überlebende, obgleich der Älteste von drei Brüdern und einer Schwester." Johannes Seidl hat die französisch abgefasste Autobiografie neu übersetzt und mit Angelika Ende 2013 herausgegeben.

Unterrichtsminister Stremayr gab 1878 bei Viktor Tilgner die Büste Boués für das neue Universitätsgebäude am Ring in Auftrag.
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"Man zweifelte daran, dass ich am Leben bleiben würde"

Ami, eine Kurzform von Amédée, war bei der Geburt schwach, sein Onkel verglich ihn "mit einer Möhre". Kein Kompliment für den Neugeborenen, dem man wenig Überlebenschancen einräumte, "doch war mein Körper dessen ungeachtet wohl gestaltet, von mäßig sanguinischem Temperament und sehr gesunder Leibesbeschaffenheit." Ein Satz soll noch zitiert werden. "Meine Pocken waren sehr gnädig, weil man sie mir eingeimpft hatte, um die Heftigkeit des Ausbruchs zu verhindern." Von Impfskepsis also keine Spur.

Seine gute Gesundheit, die er sich bis ins hohe Alter bewahrte, führt er auf seine Kindheit und die Ernährung zurück. "Sie [meine Mutter] ließ mich im Sommer fast nackt und ohne Schuhe und Strümpfe herumlaufen. Zudem lebte ich bis zum Alter von 20 Jahren meistens von Milchspeisen, Gemüse, Früchten und Brühen weit mehr als von Fleisch." Beim Trinken setzt er auf Wasser, "nur selten kostete ich Wein". Kaffee mied er, lediglich in der Türkei konnte er ihm nicht entsagen. "Schokolade, Kakao und manchmal Tee bildeten mehrere Jahre hindurch abwechselnd mein Frühstück." In England trank er "Tee und ziemlich viele Spirituosen". Ami Boué war durch und durch sportlich und trainiert und als knapp 60-Jähriger fit wie ein Turnschuh. "Ich konnte […] nicht nur meine Arme rückwärts verschränken, sondern auch meinen Mund bis an meine Fußspitzen heranführen."

Sprachbegabt mit "zutiefst kosmopolitischen Anschauungen"

Sein Geist stand dem Körper in keiner Weise nach. Boué besaß ein gutes Sprachgefühl und ein hervorragendes Gedächtnis, er war Multitasker, nur bei Zahlen hatte er seine Schwächen. "Häufig nahm ich zugleich an zwei Gesprächen teil oder befasste mich schriftlich oder mündlich mit der Lektüre zweier Stoffe." Natürlich konnte er neben Latein auch Altgriechisch. "Die englische Sprache konnte ich mir in sechs Monaten so gut aneignen, dass ich nicht nur den Vorlesungen der Professoren in Edinburgh folgen konnte, sondern noch während der Stunde das Vorgetragene zum größten Teil ins Französische übersetzte. Für das Italienische genügten mir drei Monate."

Russisch konnte er lesen, Serbisch sprach er, doch "im Tschechischen und vor allem im Polnischen" fand er sich nicht zurecht. In der Türkei eignete er sich die Umgangssprache an, beim Albanischen nahm er ein Wörterbuch zur Unterstützung. "Schwieriger war mir die Verständigung im skandinavischen Sprachraum." Im Ungarischen nahm er Unterricht, musste aber eingestehen, dass diese Sprache "merklich größere Schwierigkeiten bietet als das Slawische und Türkische". Er selbst bezeichnet sich als "höflichen, zuvorkommenden, humanen Charakter" und betont seine "zutiefst kosmopolitischen Anschauungen".

Boué, "Realitätenbesitzer" und "Bürger in Wien", hatte zahlreiche in- und ausländische Ehrentitel auf seiner Parte angeführt.
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Wohlüberlegter Wahlwohnsitz in Wien

Boué, der seit 1817 in Paris lebte, aber in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts viel unterwegs war, hatte 1826 in Wien Eleonore Beinstingl geheiratet und suchte dann eine fixe Bleibe: "So sah ich 1835 den Augenblick gekommen, wo ich mich für einen Ort als festen Wohnsitz entscheiden musste." Boué hatte viele Städte bereist. "Da ich die Engstirnigkeit der kleinen Städte verabscheute, gab es in dieser Zeit nur drei Großstädte, die mir häusliches Glück und die für mein Leben nötigen Hilfsmittel zu versprechen schienen, nämlich Paris, Genf und Wien. Das nördliche Klima Hamburgs wie auch Londons ist nicht anziehend, die Umgebung von Berlin für einen Freund der Alpen von höchster Langeweile; Neapel und Palermo waren äußerst angenehme Städte, wenn es nur die Bevölkerung ein wenig mehr wäre, und in Konstantinopel ist man von den Bereichen der Wissenschaften zu sehr abgeschnitten." Paris kam für ihn nicht infrage "und Genf war mir wegen des Hanges zum Muckertum, den viele meiner Bekannten zeigten, zuwider, also konnte ich nicht zögern, auf das schöne Wiener Becken zurückzukommen, den echten, natürlichen Kreuzungspunkt von vier Straßen, deren jede zu verschiedenen Völkern und Ländern führte, und dies an der Pforte zum Orient".

Breit gefächerte wissenschaftliche Verdienste

Obwohl Boué als Mediziner promovierte, zog es ihn zur Geologie. Er kannte das Who's who der führenden Geologen und gilt als der Geologie-Pionier auf der Balkanhalbinsel, wo er sich auch mit Eisenbahnrouten oder ethnografischen Fragen befasste. Er war der Erste, der eine geologische Karte der Welt, "Carte géologique du globe terrestre", zeichnete, die er 1843 in Graz vorstellte. Franz von Hauer (1822–1899) über sein Werk: "Die Liste seiner Druckschriften umfasst 11 selbstständige Werke in 12 Bänden und 4 kleineren Heften, dann, nach einer oberflächlichen Zählung, mindestens 300 Abhandlungen und kürzere Notizen in etwa 30 verschiedenen englischen, französischen und deutschen Zeit- und Gesellschaftsschriften."

Ein großer Wurf Boués, die erste geologische Karte der Welt. Wien hat eines der beiden Exemplare.
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Meilensteine sind die "Esquisse géologique de la Turquie d’Europe" ("Geologische Skizze der europäischen Türkei") von 1840 beziehungsweise das vierbändige Werk "La Turquie d’Europe" über die Europäische Türkei, das in den Jahren 1836 bis 1840 entstand. Einzigartig ist seine "Sammlung geologischer Karten der europeischen [sic!] Türkei", die er 1879 der k.k. geologischen Reichsanstalt schenkte. Sie gehören zu jener Werkgruppe, über die Hauer schrieb "Originalmittheilungen von selbst gemachten Beobachtungen", heute sind sie wichtige Quellen zur Erforschungsgeschichte der Balkanhalbinsel.

Nicht nur die Geologie, auch die Siedlungsgebiete der Völker auf der Balkanhalbinsel dokumentierte Boué.
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Boué skizzierte in zwei Farben auch mögliche Eisenbahnrouten auf der Balkanhalbinsel.
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Reiseerlebnisse in Österreich: "Wirklich patriarchalische Zeiten"

Beginnen wir bei seinen österreichischen Erlebnissen unter Kaiser Franz I. "Als ich im Juni 1821 Wien zum ersten Mal betrat, wäre ich fast ausgewiesen worden. […] Nach einem Uebernachten in einem Dorfe erreichte ich die Taborlinie auf einen Bauernwagen, der Wachtposten [sic] hielt mich für einen Inländer und übersah meinen Koffer und meinen Pass. Nach einigen Tagen ging ich selbst von meinem Wirthshause zu dem damaligen Fremden-Inquisitorium, wo mir der Vorstand mit Entsetzen meinen Pass abnahm, mir aber – eine monatliche Aufenthaltskarte – nur nach Erhaltung eines Briefes von dem damaligen Banquier Graf Fries, übergab, in welchen man für mich gut stand. […] In Paris zog man damals die Fremden an, in Wien aber verbitterte man ihnen ihre Anwesenheit." Seine Meinung über den Metternich’schen Polizeistaat ist vernichtend. "Ueberall, wenigstens in Continental-Europa, trifft man eine politische Polizei an, aber eine so tölpelhafte, als unter dem seligen Kaiser Franz, gab es, glaube ich, nirgends. Manche schädliche Persönlichkeiten übersah man, oder drückte die Augen über ihr Treiben zu, indem man ganz unschädliche Menschen mit besonderem Eifer quälte oder den Touristen in einen gefährlichen Propagandisten verwandelte."

Reiserlebnisse im Jahr 1824: "Meine Vergiftung in Transsilvanien"

Schlimmeres erlebte er 1824 in Rumänien. In Klausenburg (Cluj-Napoca) nahm er einen walachischen Kutscher und Pferde für die Reise nach Transsilvanien. Hier wollten ihn seine beiden Diener mit dem Saft des Gemeinen Stechapfels (Datura stramonium) vergiften und mischten das Gift in seine Frühstücksschokolade. Boué bekam Beinschwäche, erholte sich aber in Hermannstadt (Sibiu). Die Diener wiederholten den Giftanschlag mit höherer Dosis. "Aber die Bitterkeit des Giftes bewirkte, dass ich nur die halbe Tasse trank. Der Rest sowie eine zweite Tasse blieben unberührt und wurden von einem Diener und einem Mädchen der Herberge getrunken, was das Verbrechen zutage förderte." Die beiden hatte es schlimmer erwischt, das Gift zeigte seine volle Wirkung. "[Ich] fühlte […] mich elend, meine Pupillen waren geweitet, meine Augen sahen alles rot und gelb. Ein starkes Erbrechen befreite mich glücklicherweise von einer verderblicheren Wirkung des Giftes. […] Ich hatte mehr als 24 Stunden lang eine Art Wahnsinnsanfall, der Wirt gab mir Milch zu trinken." Schließlich raubten ihn auch noch seine Diener aus. Boué überstand alles, mehr als ein Jahr litt er noch an Gedächtnisstörungen; in seiner empfehlenswerten Autobiografie erwähnte er dieses und andere Abenteuer unter der Überschrift: "Besonderheiten aus meinem Leben". (Thomas Hofmann, 19.11.2021)