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Grabsteine auf dem Gelände der Gedenkstätte in Potočari.

Foto: Reuters / DADO RUVIC

In den Ausstellungsräumen wird den Besucherinnen und Besuchern die Geschichte der Gräueltaten nähergebracht.

Foto: imago/Eibner

Sie sind zwei Wiener Kinder. Aber mit besonderen Wurzeln. Zum ersten Mal machen nun zwei Zivildiener aus Österreich ihren Auslandsdienst in der ostbosnischen Stadt Srebrenica im Gedenkzentrum Potočari über den Genozid: der 19-jährige Dennis Miskić aus Wien-Donaustadt, ein fröhlicher und neugieriger Mann mit langen, braunen im Schopf zusammengebundenen Haaren, und der 23-jährige Aleksandar Petrović, ein nachdenklicher, musikalischer Idealist. Sie werden fünf Monate an jenem Ort verbringen, wo im Juli 1995 mehr als 8.000 Menschen deshalb ermordet wurden, weil sie muslimische Namen hatten und die Armee der Republik Srpska das Gebiet "ethnisch" säubern wollte, um es später an Großserbien anzuschließen.

Das allein ist schon eine Pioniertat, denn bisher konnten Österreicher überhaupt noch nicht in Bosnien-Herzegowina ihren Gedenkdienst absolvieren. Miskić, der eineinhalb Jahre Vorbereitung beim Verein Auslandsdienst in die Sache gesteckt hat, suchte selbst beim Sozialministerium und beim Außenministerium darum an. Er wandte sich an den Leiter des Gedenkzentrums, Emir Suljagić, der selbst in jungen Jahren den Völkermord überlebt hat und aus Srebrenica geflüchtet ist. Im Gedenkzentrum in Potočari werden nicht nur Erinnerungen an die Opfer, ihre Familien und die politischen Hintergründe gesammelt und gezeigt, Suljagić bemüht sich auch darum, die Geschichte des Bosnien-Krieges Schulklassen – auch aus dem Ausland – näherzubringen.

Dennis Miskić (rechts) und Aleksandar Petrović werden fünf Monate im Gedenkzentrum Potočari verbringen.
Foto: Nicolas Moll

Mutter vor Grauen geflohen

Die beiden in Wien aufgewachsenen jungen Männer erzählen, dass sie selbst in Österreich in der Schule nie etwas über den Genozid und den Bosnien-Krieg (1992–1995) gelernt haben, was auch deshalb wichtig wäre, weil in den Familien bis heute nationalistische Narrative weitergegeben werden. Beide haben über den Völkermord in Srebrenica erst aus sozialen Medien erfahren. Miskićs Familie kommt aus Bosnien-Herzegowina, sein Vater ist gerade noch rechtzeitig 1991 aus Bihać hinaus, weil er einen Job in Wien bekommen hat, seine Mutter kommt aus Foča, einer Stadt in der anderen Ecke des Landes, in der massenhaft Verbrechen an Menschen mit muslimischen Namen begangen wurden.

Der Terror in Foča begann 1992. 2.700 Bosniaken wurden in der Gemeinde ermordet, in "Vergewaltigungslagern" wurden muslimische Frauen gefoltert. Die extremen serbischen Nationalisten benannten die Stadt in Srbinje ("Platz der Serben") um, um die "Säuberung" zu feiern. Miskićs Mutter entkam mit etwa 17 Jahren. Von ihr hat Dennis nicht viel über ihre Heimat gehört. Sie redet kaum darüber, wie viele, die das große Grauen hinter sich gelassen haben. Ihr Sohn will nun aber im Heimatland der Eltern lernen und zuhören. In Wien aufgewachsen, hat er das Privileg, unbelasteter zu sein. Und trotzdem haftet die Kriegsgeschichte, die Flucht, aber auch oft das Schweigen schmerzhaft an seiner Generation.

DER STANDARD

Als anderer Mensch zurückkehren

"Jede Person, die wir in Srebrenica treffen, hat eine unglaubliche Geschichte hinter sich. Ich will diese Geschichten hören und im Gedenkzentrum mithelfen", sagt Miskić dem STANDARD über seine Motive, nach Srebrenica zu gehen. "Ich will mich aber auch als Persönlichkeit weiterentwickeln, als ein anderer Mensch zurückkommen", meint er. Er freut sich auch darauf, endlich einmal bosnische Kaffeehäuser zu besuchen und von der Lebensart etwas mitzubekommen, von der sein Vater ihm immer erzählt. Ihm gefällt der Spruch "Ich bin hundert Prozent Österreicher, und ich bin hundert Prozent Bosnier". Miskićs Familie sind bosnische Muslime – heute oft Bosniaken genannt.

Miskić und Petrović sprechen die Sprache ihrer Eltern, es ist dieselbe Sprache, und sie rollen auch deshalb das "R" am Gaumen, wenn sie Österreichisch sprechen. Wenn sie ihren Gedenkdienst beginnen, bringen sie aber sehr verschiedene Geschichten und Perspektiven aus ihren Familien mit ein.

Serbe in Srebrenica

Aleksandar Petrović sitzt in Österreich gerne mit Leuten zusammen, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen. Er sagt, dass er einfach alle möge, deren Namen auf "ić" enden, und er meint, dass er diese Leute wieder näher zusammenbringen wolle, weil er wisse, dass es immer dann schwierig werde, wenn man anfange, über Politik zu reden. Petrovićs Familie kommt aus dem Nachbarland Bosnien-Herzegowinas, aus Serbien. Die Eltern kamen als Gastarbeiter aus einem Dorf in der Nähe der Stadt Požarevac, in der Slobodan Milošević geboren wurde. Im Sommer fährt er immer wieder in die Heimat seiner Eltern. Wie viele aus der Diaspora gilt auch er als der "reiche Cousin", von dem erwartet wird, Geschenke zu machen, obwohl seine Familie alles andere als reich ist.

Petrovićs Familie sind Serben. Der mutige Sohn Aleksandar weiß, dass er sich einiges wird anhören müssen, weil er sich in Srebrenica für die Erinnerung an die muslimischen Opfer jener Massengewalt einsetzt, die noch immer von vielen serbischen Nationalisten geleugnet wird. "Ich bin ethnischer Serbe, das ist schon ein Brocken", sagt er. Er möchte, dass künftig nicht mehr automatisch auf alle Serben mit dem Finger gezeigt werde. Oft werde so getan, als hätten alle Blut an den Händen kleben, sagt er. "Ich habe mit dem Krieg nichts zu tun", stellt er klar, möchte aber als Gedenkdiener gleichzeitig Verantwortung für den heutigen Umgang mit der Vergangenheit übernehmen.

Biertrinken als Mission

Petrović hat die Erfahrung gemacht, dass in Österreich Leute mit Wurzeln in Südosteuropa leben, die extrem nationalistisch sind. "Ich bin den Extremisten immer aus dem Weg gegangen", erzählt er über seine Schulzeit im zehnten Bezirk. Er erinnert sich an eine Begebenheit, als ein "großer Kroate", so nennt er kroatische Nationalisten, zu einem Schulkollegen, einem Muslim aus Serbien, sagte: "Du bist alles, was ich hasse, ein Muslim und ein Serbe!"

Diese Nationalisten in Österreich oder auf dem Balkan stünden jenen im Weg, die gut miteinander auskommen wollen, sagt Petrović. Er möchte deshalb dazu beitragen, dass sich die Leute im und aus dem ehemaligen Jugoslawien wieder "lieben und gemeinsam Bier trinken". Er nennt das "meine persönliche Mission". Der feinfühlige junge Mann, der erst kürzlich die österreichische Staatsbürgerschaft bekommen hat, will deshalb in dem halben Jahr in Srebrenica vor allem lernen, wie man über die Kriegsvergangenheit reden kann. Er hält ein gemeinsames Verständnis für möglich. "Wir sind ja sehr integrationsfähig, ein Arbeitervolk", verweist er auf etwas Verbindendes zwischen den Nationalitäten und den Religionsgruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Weiterreise in die USA

Miskić, dessen Mutter vor Mord und Terror flüchten musste, bringt noch einen anderen Aspekt ein. Er weiß, dass Österreich für viele Bosnier im Krieg ein Zufluchtsort war, wo "sie nur froh waren, dass sie in einem stabilen Land leben dürfen". Beide jungen Männer sind das Gegenteil von verwöhnt. "Solange du nicht ins Krankenhaus musst, gehst du in die Schule", hieß es in der Familie Miskić. Und Dennis nutzte seine Chance: Er war so tüchtig, dass er sogar ein Auslandssemester in den USA verbrachte. Dorthin wird er auch nach fünf Monaten in Srebrenica zurückkehren. Die zweite Hälfte des Auslandsdiensts werden die beiden jungen Wiener in Dayton in Ohio verbringen, wo 1995 das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina geschlossen wurde. Sie werden in Ohio im Friedensmuseum mitarbeiten, in dem man viel über die Bedingungen gewaltfreien Zusammenlebens lernen kann.

Miskić und Petrović werden während ihres Gedenkdiensts sicher auch mit der Vergangenheit ihrer Herkunftsfamilien konfrontiert – und einer der schlimmsten Episoden in der europäischen Geschichte. Die beiden könnten danach sicher vieles für Geschichte-Unterrichtsstunden in Österreich beitragen. Und nach ihrem Gedenkdienst kommen hoffentlich weitere Österreicher nach Srebrenica, die zum gemeinsamen Erinnern und zur Gestaltung der Zukunft beitragen können. (Adelheid Wölfl aus Srebrenica, 17.11.2021)