Bereits jetzt müssen Operationen verschoben werden. Diese Situation verschärft sich täglich.

SALESIANER

Die medizinische Lage in Österreich ist aktuell extrem angespannt. Intensivmediziner berichten davon, dass nicht lebenswichtige Operationen verschoben werden müssen, um die Intensivstationen nicht noch zusätzlich zu belasten. Wie angespannt die Lage ist, verdeutlicht etwa ein Apell von Gynäkologe, Brustkrebsexperte und Präsident der Österreichischen Krebshilfe Paul Sevelda: "Noch nie zuvor gab es in Österreich die Situation, dass Krebspatientinnen und -patienten fürchten mussten, nicht entsprechend medizinisch versorgt zu werden. Wir erwarten von den politisch Verantwortlichen, dass sie zum Wohl der Bevölkerung endlich handeln und Parteiinteressen hintanstellen."

Auch die Kardiologen warnen, dass die Versorgung von Herzpatienten in Gefahr ist. Bernhard Metzler, Präsident der Österreichischen Kardiologischen Gesellschaft, betont: "Herzerkrankungen sind in der westlichen Welt nach wie vor die häufigste Todesursache. Täglich sterben deshalb mehr Menschen als an Corona. Bereits in der ersten Covid-Welle sind weltweit zweifelsfrei Kollateralschäden in der Herzinfarktversorgung durch die Pandemie gezeigt worden. Das darf sich nicht wiederholen."

Doch was bedeutet das für die jeweils Betroffenen? Kann man Herz- oder Krebseingriffe beliebig verschieben? Das kommt darauf an, wie Experten erklären. Bei Krebs ist etwa die Frage, welchen Tumor man hat. Denn bei kurativen Operationen, wenn ein Tumor isoliert ist, kann dieser Eingriff eine heilende Behandlung sein. Müssen solche Operationen länger verschoben werden, erfüllt das die Onkologen mit Sorge, wie auch Matthias Preusser, Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie an der Med-Uni Wien, betont: "Dann steigt natürlich das Risiko, dass der Tumor irgendwann nicht mehr lokal ist, sondern sich ausbreitet und metastasiert."

Das Thema ist kein neues, man hat das bereits in Prä-Pandemie-Zeiten untersucht. Eine im Herbst 2020 veröffentlichte Metastudie, die in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift "The BMJ" publiziert wurde und die genau diese kurativen Eingriffe untersucht hat, ist zu dem Schluss gekommen, dass mit der Verschiebung einer Operation um vier Wochen das Risiko, an diesem Krebs zu sterben, um sechs bis acht Prozent steigt.

Überbrückende Therapien

Natürlich gibt es Überbrückungsmöglichkeiten. "Bei einigen Krebsarten ist eine neoadjuvante Therapie, also eine medikamentöse Behandlung oder Bestrahlung vor einer Operation, um den Tumor zu verkleinern, ganz normal. Dazu zählen viele Brustkrebsarten, Speiseröhren- oder Magenkrebs. Diese Therapie könnte man verlängern, man geht davon aus, dass dadurch das gesundheitliche Risiko nicht stark ansteigt", weiß Preusser. Auch bei Prostatakrebs kann man in Einzelfällen ein alternatives Therapiekonzept, etwa mit medikamentöser Hormontherapie, erwägen, um so eine gewisse Zeit zu überbrücken. Studien und eine klare Datenlage zu so einem Hinauszögern gibt es freilich nicht.

Bei anderen Krebsarten ist so eine neoadjuvante Therapie nicht vorgesehen in der Behandlung. "Da muss man dann jeden Fall individuell anschauen, gemeinsam in der Kollegenschaft und mit den Patienten Therapiemöglichkeiten besprechen", so Preusser. Manche Krebsarten sprechen etwa auf Strahlentherapie gut an. Ein einheitliches Vorgehen gibt es aber nicht, jeder Fall muss extra besprochen werden.

Und dann ist noch die Frage, wie kompliziert der Eingriff ist. Ein Brusttumor etwa ist im Verhältnis oft leicht zu entfernen und mit kurzem bis gar keinem Intensivaufenthalt verbunden. Bei einem Eingriff an der Bauchspeicheldrüse oder im Gehirn dagegen benötigt die betroffene Person sehr wohl eine Aufenthalt auf einer Intensivstation, auch wenn sich der meist auf wenige Tage beschränkt.

Was das alles konkret für Krebspatientinnen und -patienten bedeutet, kann man noch nicht klar beurteilen. Eine Studie, die vor kurzem im Journal "The Lancet Oncology" publiziert wurde und die Daten von über 20.000 Krebspatienten in 61 Ländern untersucht hat, zeigt, dass es, je schwerer die Covid-Situation ist, umso häufiger zu Verschiebungen kommt. Nachteile für die Patienten zeigen sich in dieser Untersuchung nicht, aber, so Preusser, "das ist jetzt gar nicht messbar, das zeigt sich erst in der Zukunft. Setzt man diese Daten aber in Beziehung zu den Auswirkungen von verschobenen Operationen, liegt es auf der Hand, dass das ein Problem ist. Ein wie großes werden wir aber erst mit Monaten oder sogar Jahren Verzögerung sehen. Es ist definitiv nicht ausgeschlossen, dass in den nächsten Jahren vermehrt Krebserkrankungen im fortgeschrittenem Stadium auftreten." Und das verschlechtert natürlich auch die Heilungschancen.

Gefährdete Akutversorgung

Auch in der Kardiologie ist das Problem schon akut. Am schwerwiegendsten ist es bei Herzinfarkten. Hier wird in der Akutversorgung ein Katheter gesetzt, um das Gefäß aufzumachen. "Das ist zwar an sich ein Routineeingriff, aber danach braucht es eine intensivmedizinische Überwachung, weil es zu Komplikationen oder sogar Herzstillstand kommen kann", betont Kardiologe Metzler. Auch sind in weiterer Folge oft Operationen nötig, die derzeit nur schwer durchgeführt werden können, weil Personal und postoperative Betreuungsmöglichkeiten anderwärtig gebunden sind.

Darüber hinaus gibt es viele Patienten, die ohne Notfall ins Krankenhaus kommen. "Auch von denen brauchen viele in sehr absehbarer Zeit eine Operation. Findet die nicht statt, kann das im schlimmsten Fall sogar lebensgefährlich sein", betont Metzler. Daten aus der ersten Welle der Pandemie zeigen ganz klar, dass es durch die hohe Belastung des Gesundheitssystems zu einer schlechteren Versorgung dieser Patientinnen und Patienten gekommen ist. Eine Wiederholung dieser Situation will Metzler unbedingt vermeiden.

Keine neuen Hüften

Definitiv schon betroffen von Verschiebungen sind all jene Eingriffe, die nicht überlebenswichtig sind. Adipositas-Chirurgie wie das Einsetzen von Magenbändern etwa, Eingriffe an der Wirbelsäule oder das Einsetzen von neuen Hüft- oder Kniegelenken. "Eingriffe, die mit einem längeren Intensivaufenthalt verbunden sind, aber ohne lebensbedrohende Folgen, müssen warten. Alle anderen werden natürlich gemacht", betont Alexandra Kofler, Ärztliche Direktorin der Tirol Kliniken.

Um zu klären, welche Operation noch warten kann, braucht es die regelmäßige Abstimmung von Ärzten und Patienten, jede Entscheidung wird individuell getroffen. Kofler betont: "Die Menschen müssen sich unbedingt melden, wenn es ihnen schlechter geht. Nur so können wir gewährleisten, dass es keine negativen Folgen gibt." Und sie fordert auch alle auf, Schmerzen, einen Knoten oder andere Veränderungen unbedingt immer abklären zu lassen: "Wir haben in jeder Welle gemerkt, dass weniger Menschen ins Krankenhaus gekommen sind für diese Untersuchungen. Aber diese Abklärungen sind extrem wichtig, man soll sie immer wahrnehmen!"

Und doch heißt es oft genug: Bitte warten. Gerade orthopädische Eingriffe sind davon betroffen. Kofler: "Das ist schlimm für die Patienten, weil sie oft starke Schmerzen haben und das will wirklich niemand. Aber wir haben derzeit keine andere Wahl." (Pia Kruckenhauser, 19.11.2021)