Am schlimmsten war es in Bergamo: Aus dem Spital Papst Johannes XXIII., dem drittgrößten in der norditalienischen Region Lombardei, kam am 17. März 2020 die Nachricht: "Alle 80 Intensivbetten sind belegt." Die täglich neu ankommenden Covid-Patienten wurden auf Korridore, in Warte- und sogar in Badezimmer gelegt. Die TV-Bilder von dutzenden Patienten unter Sauerstoffzelten gingen um die Welt. "Ich werde es nie vergessen können: Von überall her kommen Patienten mit schweren Lungen- und Atemproblemen, die röcheln und um Luft ringen", berichtete damals der Chefarzt für Lungenkrankheiten, Fabiano Di Marco.

Vor dem Triagezelt des Spitals in Bergamo, März 2020.
Foto: AFP / Miguel Medina

Im Spital von Bergamo wurden am Höhepunkt der ersten Welle bis zu 500 Covid-Patienten gleichzeitig behandelt; der Sauerstoffverbrauch auf der Intensivstation betrug 8600 Liter pro Stunde. Das Personal arbeitete an der Grenze der Belastbarkeit und darüber hinaus. Freie Plätze auf der Intensivstation gab es nur noch, wenn Patienten sich erholten oder verstarben – das waren etwa 25 pro Tag.

Gleichzeitig wurden aber täglich zwischen 70 und 100 neue Covid-Patienten eingeliefert; vor der Notaufnahme standen dutzende Rettungsfahrzeuge mit schwerkranken oder sterbenden Menschen, zum Teil bis zu zwölf Stunden lang. Zwar konnten viele Patienten in die Spitäler weniger stark betroffener Regionen transportiert werden – aber längst nicht alle.

Von offizieller Seite ist es nie zugegeben worden, aber es liegt auf der Hand: In der Provinz Bergamo, wo alleine im ersten Monat der Pandemie über 6.000 Menschen an oder mit Covid-19 verstarben, haben bei weitem nicht alle Patienten die nötige medizinische Hilfe erhalten. Hunderte vor allem ältere Menschen starben allein zu Hause, weil keine Ambulanzen mehr vorhanden waren; oder weil der Hausarzt überlastet war und nicht mehr zu den bettlägerigen Patienten fahren konnte.

Triage – wer bekommt eine Chance?

Und in einzelnen Fällen mussten Mediziner eine Entscheidung über Leben und Tod treffen: Sie mussten bestimmen, welcher Patient einen frei werdenden Platz auf der Intensivstation erhält – und welcher Patient nicht.

Die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivtherapie hatte bereits am 6. März 2020, als der Druck auf die Intensivstationen immer stärker wurde, "ethische Empfehlungen für die Gewährung von intensivmedizinischen Behandlungen in Situationen eines außergewöhnlichen Ungleichgewichts zwischen notwendigen und tatsächlich vorhandenen Kapazitäten" erlassen. Der Katalog enthielt 15 Punkte. Der wichtigste: Allein auf das Alter des Patienten abzustellen, sei nicht zulässig. Das wichtigste Kriterium sei vielmehr, ob die Intensivbehandlung überhaupt erfolgversprechend und wie groß die Lebenserwartung nach der Therapie sei. Es gehe demnach darum, mit den nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehenden Ressourcen für möglichst viele Patienten das Maximum zu erreichen.

Natürlich sei es "äußerst schwierig, einen sterbenden Patienten aufzugeben", betont die Universitätsprofessorin und Intensivmedizinerin Flavia Petrini, die bei der Ausarbeitung der Triage-Richtlinien beteiligt war. Aber es sei eine Illusion zu glauben, dass immer und in jedem Fall genügend Intensiv-Kapazitäten vorhanden seien: Beim Erdbeben von L'Aquila 2009 mit tausenden Verletzten sei das auch nicht der Fall gewesen. Wichtig sei aber, dass das Gesundheitssystem so gut wie möglich auf Extremsituationen vorbereitet sei.

Es mangelte an allem

Das war in Italien zu Beginn der Pandemie nicht der Fall: Es mangelte an allem, auch an Schutzmaterial für das medizinische Personal. Zahlreiche Ärzte, Ärztinnen und Pflegekräfte steckten sich selber an, dutzende starben.

Nach der "Apokalypse von Bergamo" wurden mehrere Ärzte von Angehörigen Verstorbener, die keinen Platz auf den Intensivstationen bekommen hatten, verklagt. Es sei auch zu Gewaltakten gekommen, erzählt Petrini: In Rimini hätten etwa Unbekannte die Scheiben der vor dem Spital geparkten Autos der Mediziner und Pflegekräfte eingeschlagen.

Die Verzweiflung der Angehörigen sei verständlich, räumt Petrini ein; aber in der Regel werde gar nicht danach gefragt, ob die Intensivbehandlung überhaupt noch etwas bringe. Und genau dies zu entscheiden sei in solchen Extremsituationen die Aufgabe der Ärzte. (Dominik Straub aus Rom, 18.11.2021)