Was ist los in dieser ÖVP? Die Türkisen rennen seit der Degradierung ihres ehemaligen Kanzlers Sebastian Kurz zum Klubchef orientierungslos durch die heimische Innenpolitik. Es scheint, als liege der Politikberater Thomas Hofer mit seiner Diagnose richtig: Die ÖVP leidet zurzeit unter einem "dröhnenden Phantomschmerz".

Seit ihr Mastermind weg ist, werkelt die verbliebene türkise Truppe in der Regierung verunsichert vor sich hin. Es ist keiner mehr da, der täglich die Order ausgibt. Ohne Kurz schrumpft die ÖVP in Umfragen wieder auf ihre altbekannte Größe, und da stellt sich natürlich die Frage: Wie will die Partei wieder hochkommen?

Das türkise Regierungsteam klammert sich, um die Identität als Kanzlerpartei zu bewahren, an die Direktiven, die Kurz vorgegeben hatte. Kein Millimeter wird davon abgewichen, nichts infrage gestellt. Die Pandemie ist auch für Kurznachfolger Alexander Schallenberg "für die Geimpften vorbei". Er weiß natürlich, dass diese Aussage einem Reality-Check nicht standhält, aber er hält sich an das von Kurz vorgegebene Skript. Ein Fehltritt, eine falsche Aussage, und das türkise Konstrukt bröckelt.

Kurz-Nachfolger Alexander Schallenberg hält sich an das Skript seines Vorgängers.
Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Um den inneren Zusammenhalt zu stärken, braucht es auch einen Außenfeind. Da bietet sich Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein an, das momentan schwächste Glied in der grünen Kette. Eine Entlastungsaggression hat auch schon bei Mücksteins Vorgänger Rudi Anschober funktioniert. Dieser wurde erfolgreich rausgemobbt und die ÖVP als "stabiler Faktor" gestärkt. Warum sollte das nicht auch bei Mückstein funktionieren. Mit vereinter türkiser Rhetorik wird Mückstein wegen seiner Forderung nach konsequenteren Maßnahmen in der Pandemiebekämpfung attackiert. Selbst Kanzler Alexander Schallenberg beteiligt sich daran.

Strategische Kurzdenke

Die ÖVP schlägt sich auf die Seite der Geimpften und schließt – anders als Mückstein – einen Lockdown, der auch diese Gruppe treffen könnte, kategorisch aus. Diese strategische Kurzdenke könnte aber schwer danebengehen: Das heute Gesagte kann nächste Woche bereits Makulatur sein.

Auf Regierungsebene versucht die ÖVP jedenfalls, den alten Kurz-Kurs stur weiterzufahren. Bis er wiederkommt, woran die Kurz-Gefolgschaft tatsächlich glaubt. Da kann es durchaus nützen, wenn die Situation noch mehr ins Chaos rutscht und Stimmen laut werden lässt, dass es "unter Kurz" nicht so weit gekommen wäre. Letztlich bleibt das alles aber eine hilflose Hoffnung seiner Hinterbliebenen in der Regierung.

In der restlichen ÖVP, in den Ländern, hält man das alles ohnehin für ein Vabanquespiel. Aber es gibt keine Alternative. Die ÖVP hat keinen Plan B.

Am Tag, als in Österreich bereits Teams für Triagierungen in Spitälern gebildet wurden, formulierte Kurz einen Tweet. Nicht um seine Sorge zu äußeren, sondern: "Ich bin froh, dass meine Immunität aufgehoben wird." Zuvor hat ihm ein von der ÖVP beauftragter Gutachter bescheinigt, dass an all den Vorwürfen strafrechtlich nichts relevant sei.

Was diesen Tweet aber besonders relevant macht: Es geht Kurz und der ÖVP in diesen Tagen augenscheinlich zuerst um sich selbst. Während Österreich auf ganz dramatische Wochen in dieser Pandemie zusteuert, kümmern sich die Türkisen um ihr eigenes Wohlergehen. ÖVP first. (Walter Müller, 17.11.2021)