"In Vielfalt geeint" lautet das Motto der Europäischen Union seit dem Jahr 2000. Gemeint ist damit, dass Diversität von Kulturen, Sprachen und Traditionen nicht trennt, sondern durch gegenseitige Bereicherung Einheit stiftet. Die Solidargemeinschaft soll zu Wohlstand und Frieden auf dem europäischen Kontinent beitragen. Heute, 21 Jahre später, müssen jedoch tausende Migrantinnen und Migranten in den Wäldern zwischen Polen und Belarus ausharren. Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen werden ausgesetzt, und flüchtende Menschen werden auf europäischem Gebiet mit Stöcken und Wasserwerfern in die Sümpfe und Wälder zurückgetrieben, während Polens Verteidigungsministerium von einem "Angriff der Migranten" spricht.

Bereits im August dieses Jahres haben uns Bilder verzweifelter Menschen aus Afghanistan erreicht, die sich auf ihrer Flucht vor den Taliban an die Tragflächen startender Flugzeuge klammerten und in den Tod stürzten. Statt mit der gebotenen humanistischen Empathie eine Willkommenskultur zu beschwören, wie wir sie 2015 vielerorts erleben durften, waren es europäische Politiker wie Altkanzler Sebastian Kurz, der damalige deutsche Kanzlerkandidat Armin Laschet und der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis, die betonten, "2015 darf sich nicht wiederholen". Und das Mittelmeer, in dem heuer bereits über 1.600 Menschen ertrunken sind, ist schon lange zum Massengrab Europas geworden.

"In Vielfalt geeint!" Wie muss das europäische Motto, dieser kosmopolitisch-humanistische Traum, der vor unseren Augen im Zuge perfider Renationalisierungsfantasien und autokratischen Machtstrebens gerade zu sterben droht, in den Ohren flüchtender Menschen klingen? Einer, der eine Antwort auf diese Frage geben könnte, würde in diesen Tagen 140 Jahre alt werden. Es ist der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren.
Foto: gemeinfrei

Das Leben und Sterben des Stefan Zweig

"Dann standen sie an den Grenzen, dann bettelten sie bei den Konsulaten und fast immer vergeblich, denn welches Land wollte Ausgeplünderte, wollte Bettler? Man musste weiter, weiter mit Frau und Kind unter fremde Sterne, in fremde Sprachwelt, unter Menschen, die man nicht kannte und die einen nicht wollten", schreibt Stefan Zweig über Begegnungen mit flüchtenden Menschen in London in seiner Autobiografie "Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers".

Zweigs Leben war geprägt von Widersprüchen. Er durfte im ausgehenden 19. Jahrhundert erfahren, wie sich die bürgerliche Freiheit schrittweise gegenüber biederen aristokratischen Zwängen durchsetzte und technologische wie gesellschaftliche Errungenschaften ein europäisches Bewusstsein entstehen ließen. Als europäischer Vordenker war sich Zweig bewusst, dass nur ein geeintes Europa zukünftige Herausforderungen bewältigen und zu Stabilität und Frieden beitragen kann.

"Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr auf Europas Einigung gehofft, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands."

Der Weltenbrand

Zweigs europäischer Traum geriet am Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch ins Wanken und mit ihm der ganze Kontinent. Als Humanist musste er mitansehen, wie sich der Nationalismus, die Erzpest aller Ideologien, wie sie Zweig beschreibt, ausbreitete "[…] und die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet(e)".

Im Weltbrand triumphierte schließlich die Barbarei. Patriotismus, Nationalismus und die Entsolidarisierung waren für Zweig das Ende des europäischen Traums. Zweig selbst musste seine Heimat verlassen und wurde zum flüchtenden Menschen. "Es hat mir nicht geholfen, dass ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines 'citoyen du monde' zu schlagen", schreibt er bereits von Depressionen geplagt in seiner Autobiografie. "Nein, am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, dass man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde." Wenige Monate, nachdem er im brasilianischen Exil seine Autobiografie fertiggestellt hatte, nahm sich Zweig das Leben.

Zu seinem 140. Geburtstag am 28. November erinnert eine Lesung aus "Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers" und ein begleitender Vortrag von Mercedes Echerer und Klemens Renoldner im Volkstheater an Zweig, den Humanisten, den europäischen Vordenker und an die erschreckenden Parallelen unserer eigenen Geschichte. (Constantin Lager, 22.11.2021)