Virtuelle Influencer bleiben immer jung. Im Bild posiert Ailynn, ein virtuelles Model aus Thailand.

Foto: AFP PHOTO / SIA Bangkok

Imma sticht sofort heraus: mit ihren kurzen rosa Haaren, dem makellosen Gesicht und ihren oftmals bunten und ausgefallenen Kleidungsstücken. Wenn sie auf Instagram Bilder und Geschichten aus ihrem Leben teilt, sehen das bis zu 350.000 Menschen. Als sie einmal von einem Streit mit ihrem Bruder erzählt, erhält sie prompt hunderte aufmunternde Kommentare und persönliche Geschichten von den Erlebnissen ihrer Follower.

So echt Immas Leben in sozialen Medien auch scheinen mag, real ist es nicht. Denn Imma ist lediglich eine Kreation eines japanischen Softwareunternehmens: ein computergenerierter Avatar, der nie alt wird, rund um die Uhr verfügbar ist und ganz dem Willen und den Gedanken ihrer Schöpfer gehorcht. Als "virtuellen Menschen" bezeichnen diese Imma. Laut Entwickler soll sich Imma mit echten Menschen emotional verbinden, Freundin und Gesprächspartnerin sein und mit ihnen gemeinsam durchs Leben gehen. Vor allem geht es aber ums Geld: Denn wie echte Influencer bewirbt auch Imma in sozialen Medien Markenprodukte, ist Model für eigens entworfene, virtuell dargestellte Designerstücke und startete gemeinsam mit Amazon sogar eine eigene Modekollektion.

Bei virtuellen Influencern, wie hier Imma, verschwimmen zusehends die Grenzen zwischen Fiktion und Realität.

Perfekt kontrollierbar

Sie ist längst nicht die Einzige. Vor allem in einigen asiatischen Ländern wie Japan, Südkorea und China boomen die virtuellen Influencer seit Jahren. Hunderte neue Models sind in den vergangenen Monaten und Jahren entstanden, von denen einige bereits berühmter sind als manch menschliche Stars. Schon jetzt ist der globale Markt für Influencerwerbung einige Milliarden Dollar schwer, in Zukunft könnte er durch die Pandemie und den Fortschritt bei Virtual- und Augmented-Reality-Technologien noch deutlich stärker wachsen, heißt es in Prognosen.

"Virtuelle Influencer machen keine Fehler, haben keine Skandale oder persönliche Probleme. Sie können genau das sein, was Unternehmen wollen und sind komplett kontrollierbar", sagt Oliver Zöllner, Medienwissenschafter an der Hochschule der Medien in Stuttgart und Leiter des Instituts für digitale Ethik, zum STANDARD. Genau das mache sie für Marken und deren Werbeauftritt so attraktiv. Egal ob Alter, Kleidung, Körperhaltung, Umgebung, Gesichtsausdruck oder Textbeiträge – alles lässt sich von den Entwicklern entscheiden und auf dem Computer einstellen.

Kein Gehalt oder Honorar

Wie das funktioniert, zeigte bereits Lil Miquela, eine der ersten und wohl bekanntesten virtuellen Influencer. Sie entspringt dem US-amerikanischen Start-up Brud, ist angeblich 19 Jahre alt, halb Brasilianerin und halb Spanierin. Seit 2016 postet Miquela regelmäßig Fotos und Geschichten aus ihrem Leben, stellt Modeartikel vor und arbeitet mit Marken wie Calvin Klein und Prada zusammen. Vor vier Jahren begann Miquela zudem, eigene Lieder und Musikvideos zu produzieren. Mittlerweile hat sie auf Spotify monatlich 100.000 Hörer und mehr als drei Millionen Follower auf Instagram. Das Beste für die Entwickler: Von dem Geld, das Miquela für ihre Werbeauftritte und Modeshows bekommt, braucht sie selbst keinen einzigen Cent.

Lil Miquela gehört zu den ersten virtuellen Influencern.

Virtuelle Liebesbeziehungen

Die Avatare wirken in einigen Fällen auf den Bildern so real, dass sich selbst Modemarken und Follower manchmal schwertun, auf den ersten Blick den Unterschied zu erkennen. Hinzu kommt, dass sogar eigene Liebesbeziehungen zwischen virtuellen Influencern inszeniert werden, um deren Auftritt möglichst realitätsnah und authentisch zu machen. Doch selbst wenn bekannt ist, dass die Menschen nicht echt sind, ist das Interesse an ihrem Leben in einigen Fällen groß – besonders unter jungen Menschen, wie Umfragen zeigen.

Was macht den Reiz der virtuellen Influencer aus? "Viele Menschen suchen das Neue und Künstliche. Sie können sich einer fiktiven Person vielleicht eher anvertrauen als einer echten, weil sie in einer solchen Beziehung weniger Verantwortung übernehmen müssen", sagt Zöllner. Man müsse etwa nicht immer höflich sein und könne alles in den fiktiven Charakter hineininterpretieren.

Liam Nikuro ist der erste männliche virtuelle Influencer aus Japan. Laut Entwicklern sollte er Justin Bieber ähnlich sehen.

Verstörende Wirkung

Die virtuellen Avatare können aber auch verstören. Denn der Gedanke, dass die Personen zwar annähernd echt aussehen, aber doch nicht real sind, löst bei vielen ein unangenehmes Gefühl aus – ein Effekt, der in der Wissenschaft auch als "uncanny valley" bekannt ist und auch bei menschenähnlichen Robotern auftritt.

Es wird aber auch andere Kritik laut: "Viele Influencerkanäle sind Dauerwerbesendungen, eine neue Onlineform der Produktplatzierung", sagt Christian Fuchs, Professor für Medien, Kommunikation und Gesellschaft an der University of Westminster, zum STANDARD. Oft seien diese Werbungen aber nicht als solche gekennzeichnet. Die Grenze zwischen regulären Inhalten und Werbung verschwimme. Immer wieder bombardieren Influencerkanäle vor allem Kinder in sozialen Medien mit Werbung, sagt Fuchs.

Unrealistische Schönheitsideale

"Es gibt auch ein Problem mit dem Datenschutz", sagt Zöllner. Oftmals sei nicht erkennbar, wo die persönlichen Informationen, die Menschen mit virtuellen Influencern teilen, gespeichert werden. Nicht zuletzt kann auch der Drang nach Perfektion problematisch sein, der durch die virtuellen Influencer verstärkt werde. "Wir werden als Menschen gewissermaßen dehumanisiert. Es werden uns Schönheitsideale gezeigt, die wir nie erreichen können, weil wir als Menschen eben nicht perfekt sind." Gerade für junge Menschen könne das den Druck erhöhen, sich anzupassen, und Selbstzweifel hervorrufen.

Dass es auch anders geht und virtuelle Influencer längst nicht immer nur jung, hübsch und unsterblich sein müssen, um Menschen zu erreichen, hat der Avatar Sylvia gezeigt, der von Ziv Schneider, einer Forscherin am Brown Institute for Media Innovation in New York, erstellt wurde. Anders als andere Avatare alterte Sylvia – und zwar um ganze zehn Jahre jedes Monat. Durch die Fotos und Gedanken, die Sylvia in ihrem fünfmonatigen Leben mit ihren Followern teilte (sie war 30 Jahre alt, als ihr virtuelles Leben begann), sollten sich Menschen tiefer mit ihr verbunden fühlen. Es gab sogar eine letzte Nachricht ihrer virtuellen Familie, als Sylvia starb.

Sylvia ist eine von wenigen virtuellen Influencern, die auch alterte.

Eine solche Bedeutung, sich mit Menschen zu verbinden, rechnen Experten virtuellen Influencern auch in Zukunft zu. "Es gibt noch viel Potenzial, dass sich die Influencer stärker im Alltag etablieren – vor allem wenn Unternehmen merken, dass sie sich damit Mitarbeiter sparen können", sagt Zöllner. Die Grenze zwischen dem Echten und Virtuellen könnte damit bald noch mehr verschwimmen. (Jakob Pallinger, 28.11.2021)