Links die aserbaidschanische, rechts die armenische Flagge nahe der Ortschaft Sotk. Die Grenze sorgt immer wieder für Streitigkeiten.

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Erneut sind an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan Schüsse gefallen. Das armenische Verteidigungsministerium sprach am Donnerstag von "wahllosem Feuer" aserbaidschanischer Truppen im Gebiet Tawusch im Nordosten des Landes. Armenien habe das Feuer erwidert.

Die Darstellung aus Baku stellt den Konflikt in umgekehrter Reihenfolge dar: Demnach hätten zuerst armenische Soldaten auf aserbaidschanische Dörfer im Grenzgebiet geschossen, worauf das eigene Militär reagiert habe. Beide Seiten machten keine Angaben über Tote und Verletzte der Gefechte.

Erst zu Wochenbeginn hatte es schwere Auseinandersetzungen zwischen den Nachbarn im Kaukasus gegeben. Bei den schwersten Kämpfen seit Ende des Kriegs um die zwischen beiden Ländern umstrittene Bergkarabach-Region kamen mindestens acht Soldaten ums Leben. Da Armenien zugleich 24 Soldaten als vermisst meldete, dürfte die tatsächliche Opferzahl deutlich höher liegen. Die Gefechte endeten erst auf russische Vermittlung hin.

Bergkarabach hallt nach

Auch wenn die Schuldfrage bei der aktuellen Eskalation auf beiden Seiten unterschiedlich beantwortet wird, über die Ursache sind sich Baku und Eriwan einig: Es handelt sich um die Nachwirkungen des Konflikts um Bergkarabach vor einem Jahr. Damals hatte das wirtschaftlich und militärisch stärkere Aserbaidschan die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region zurückerobert, die seit den 1990er-Jahren faktisch von Eriwan kontrolliert worden war.

Der Waffenstillstand, den Armeniens Premier Nikol Paschinjan schließen musste, rief eine politische Krise im Land hervor, die ihn, den einstigen Hoffnungsträger im Kampf gegen die Korruption, selbst fast den Posten gekostet hätte.

Keine demarkierten Grenzen

Einen Friedensvertrag hingegen haben die einstigen Sowjetrepubliken nicht abgeschlossen, auch die Grenzen haben sie nicht demarkiert. Dies führt immer wieder zu Streitigkeiten über die Zugehörigkeit verschiedener Gebiete.

Russland hat als Vermittler bereits mehrere Anläufe unternommen, um die Streitparteien zu einer Einigung zu bewegen. Bislang erfolglos. Rhetorisch haben zwar beide Kriegsparteien die Bereitschaft zu einem Friedensvertrag bekundet. Doch stellt jede Seite Bedingungen, die für die andere nicht erfüllbar sind.

"Russland hat schon dreimal einen Vorschlag (zur Demarkation der Grenze, Anm.) gemacht, und wir haben faktisch dreimal zugestimmt, den Prozess zu beginnen", sagte Paschinjan. Doch jedes Mal sei der Versuch an Aserbaidschan gescheitert, das entsprechende Initiativen verzögerte oder keine klaren Antworten auf Vorschläge gebe, klagte er. Armenien sei auch weiterhin zu einem Friedensvertrag bereit, fügte er hinzu.

Anerkennung fehlt

In aserbaidschanischer Sichtweise stellt sich der Sachverhalt anders dar: "Es ist nötig, das Problem der Abgrenzung zu lösen, eine gemeinsame Kommission zu bilden und den Prozess der Delimitation in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Achtung international anerkannter Grenzen zu beginnen", sagte Außenminister Jeyhun Bayramov. Der 46-Jährige spielt damit konkret auf die Anerkennung Bergkarabachs als aserbaidschanisches Hoheitsgebiet an.

Denn obwohl die Mehrheit der Bevölkerung in Bergkarabach traditionell armenischstämmig ist, wurde das Gebiet von Stalin Baku zugeschlagen. Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der beiden Republiken blieb die Region damit völkerrechtlich bei Aserbaidschan.

Die Vorbedingung Bakus für den Beginn der Demarkation ist für Eriwan derzeit politisch nicht hinnehmbar – und auch nicht auf absehbare Zukunft. Jede Regierung, die sich darauf einließe, müsste in kürzester Zeit zurücktreten.

Die Grenzstreitigkeiten zwischen beiden Staaten werden daher wohl noch geraume Zeit anhalten und beinhalten dabei die latente Gefahr, sich wieder in einen vollwertigen Krieg auszuweiten. Eine solche Auseinandersetzung könnte potenziell auch die Türkei und Russland in Frontstellung gegeneinander bringen, denn während Moskau als traditioneller Verbündeter Eriwans in der Region gilt, hat sich Ankara im Konflikt diplomatisch und militärisch aufseiten Bakus engagiert. (André Ballin aus Moskau, 19.11.2021)