Im Gastkommentar ärgert sich der ehemalige Präsidialchef des Kanzleramts Manfred Matzka über die Versäumnisse der Politik im Kampf gegen die Pandemie. Man habe fahrlässig zugewartet.

Der Gesundheitsminister wollte Strenge in Oberösterreich und Salzburg – die Landeshauptleute ließen ihn anrennen, Kontakte um 30 Prozent verringern. Der Kanzler lässt das nicht zu, Nachtsperren – Wirtschaftskreise blocken das ab, kurzfristig beraten – sein Chef verbietet Gipfeltermine, die kollabierende Intensivversorgung sichern – er darf in Länder nicht eingreifen. Aber die Landwirtschaftsministerin entscheidet in Ferndiagnose, was zur Virusbekämpfung vorstellbar ist. Das ist hilflos.

Zu viele Versäumnisse, zu viel Parteitaktik – die Bundesregierung, allen voran Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein und Kanzler Alexander Schallenberg, gibt in der Corona-Krise kein gutes Bild ab.
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"Irgendwer muss sich ein Herz fassen und Mückstein verraten, dass er im Pandemiefall entscheiden kann, darf und soll. Und dass nirgendwo in der Bundesverfassung ein Passus versteckt ist, dass der Gesundheitsminister im Pandemiefall verpflichtet ist, sich auf den Schädel scheißen zu lassen." Sagt der Kabarettist Thomas Maurer. Anzufügen ist, dass dem Minister in Gesundheitsdingen der Kanzler nichts anschaffen kann und er, wenn Menschen in großer Zahl sterben, wegen Gefahr im Verzug rasch agieren kann. In Salzburg und Oberösterreich ist Gefahr im Verzug.

Das hat der Minister offenbar noch nicht voll verstanden. Es reicht nicht, Leibarzt des Präsidenten zu sein, um effizienter Krisenmanager zu werden. Mückstein kann – in der jetzt erforderlichen Qualität – Politik nicht, Verwaltung nicht, Krisenmanagement nicht, er hat nicht den Mumm, als Arzt zu tun, was zu tun ist, und er hat nicht das politische Geschick, das Richtige so zu tun, dass es andere nicht verhindern können. Der Chirurg darf aus dem OP nicht einen Botschafter, einen Maturanten, einen Greißler und eine Bäuerin anrufen, ob er jetzt schneiden soll.

Schrecklich aktuelles Szenario

Das schreckliche aktuelle Szenario ist: Das System bricht in Salzburg zusammen, Oberösterreich wird bald folgen; das Contact-Tracing kollabiert länderweise; die PCR-Test-Systeme schaffen es weithin nicht mehr; die Todesfälle verdreifachen sich regional; es wird mit Triagen begonnen … Und mittendrin ein Dr. Hilflos, der appelliert und ein wenig rumplant.

Das schließt an das an, was der Doktor und die Landeshaupttäter in den vergangenen Monaten versäumt haben: Sie wussten im August, wohin die Entwicklung geht, auf die Woche genau, aber es wurde nicht Klartext geredet, sondern Verwirrendes kommuniziert und schönfärberisch gelogen. Es wurde kein effektiver Impfpaukenschlag gesetzt, sondern pathetisch appelliert und Impfpflichten auf die ganz lange Bank geschoben. Es wurden keine gezielten Restriktionen dort gesetzt, wo erste Spitzen auftraten, sondern erst mal eine Wahl abgewartet. Es wurde bei Schulbeginn nicht sofort jeder Ansteckung in der Klasse vorgebeugt, sondern bloß getestet. Es wurde 50 verlorene Tage lang bis zum 26. September bewusst nicht getan, was zu tun war. Es wurde beim September-Anstieg wochenlang auf 3G am Arbeitsplatz gewartet und Homeoffice nicht forciert. Es wurde nicht an 2G+ gedacht und mit einer generellen Maskenpflicht zugewartet. Es wurde nicht kontrolliert, obwohl jeder wusste, wie es in den Wirtshäusern und auf Festen zugeht.

"Es gibt eine Fahrlässigkeit, die verantwortlich macht."

Es gab keine der Maßnahmen, die in Italien, Portugal, Spanien wirkten – man hat sie gar nicht beobachtet. Es wurden der Wiener und burgenländische Weg – keine Zauberkunststücke, aber immerhin die Inzidenz halbierend – nicht zum bundesweiten Standard gemacht. Es wurde kein professionelles und wirksames Pandemiemanagement installiert, vielmehr haben Schwarz-Grün wochenlang alle Kraft darauf konzentriert, einen Kanzler aufwendig abzulösen – da blieb an der Spitze wenig Zeit fürs Regieren.

Hätte man in den letzten hundert Tagen täglich einen, nur einen kleinen wirksamen Schritt gesetzt, stünden wir jetzt nicht vor der Triage, vor den Trümmern eines vormals mustergültigen Versorgungssystems und nicht an der Weltspitze der Infektionen. Eine Entscheidung pro Tag ist einem Minister und einer Regierung zumutbar, und auch die Verwaltung hätte es geschafft, diese wirksam und rechtsrichtig umzusetzen.

Dass unterblieb, was die Zuständigen von Rechtswegen hätten tun müssen, um ein geordnetes Gemeinwesen und das Bürgerrecht auf Gesundheit zu sichern, ist folgenschwer: Wenn wir heute bis zu 60 Corona-Tote pro Tag haben, dann gehen davon 40 direkt auf das Konto dieser Versäumnisse und des aktuellen Entscheidungs- und Regelungschaos. Auch wenn Minister, Kanzler und Landeshauptmann diese Konsequenz nicht wollten, gibt es eine Fahrlässigkeit, die verantwortlich macht. "Wer die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist, und deshalb nicht erkennt, dass er" eine "Gefahr für Leib oder Leben einer größeren Zahl von Menschen herbeiführt", haftet. So ist das Gesetz.

Keine milden Urteile

Haben Doktor, Kanzler und Landeshauptmann sorgfältig die August-Prognosen der Experten beachtet oder sie weggeschoben? Waren sie aufgrund ihres Amtes und der Pandemielage zu einem Handeln verpflichtet, das die vorausgesagte Entwicklung positiv beeinflusst? Waren sie zu den nötigen Entscheidungen geistig und körperlich in der Lage? War ihnen objektiv zumutbar, unpopuläre Schritte zu setzen? Haben sie aus polittaktischen Gründen die Augen zugemacht und daher nicht erkannt, was klar zu sehen war? Gibt es aufgrund ihrer Untätigkeit (mehr) Todesfälle, die es nicht gäbe, wenn sie richtig gehandelt hätten? Muss man alle diese Fragen mit Ja beantworten, ergibt das keine milden Urteile.

Dr. Hilflos wird sich da nicht damit entschuldigen können, dass er einen Aufpasser hat, der ihn gern öffentlich düpiert. Beide werden sich nicht darauf berufen können, dass sie zudem einen Fernsteuerer am Hals haben. Sie alle werden sich nicht auf wirtschaftliche Interessen berufen können. Sie tragen jeder allein die ganze rechtliche Verantwortung für Triage, Tod und Systemkollaps. Und wenn sich Minister, Kanzler und Landeshauptleute jetzt noch gegenseitig blockieren, verstärkt das ihre gemeinsame Fahrlässigkeit.

Da wird es ihnen auch nichts mehr helfen, wenn sie Wissenschafter und Ärzte schelten. Das zeigt dann bloß, dass sie es nicht nur nicht können. Sie wollen auch nicht. (Manfred Matzka, 19.11.2021)