Manchmal wundert sich Josef Köberl über seine Mitmenschen. "Ich verstehe nicht, wieso das nicht viel mehr Leute tun", sagt der 44-Jährige, lehnt die Stöcke an die Hauswand, beugt sich hinunter und öffnet die Bindungen an den Schuhspitzen. Im Aufrichten greift er die beiden schmalen Latten, von denen er sich gerade befreit hat, mit der einen Hand, schnappt mit der anderen die Stöcke. "Guten Morgen", sagt Köberl und nickt dem Portier des Ministeriumsgebäudes an der Ringstraße zu. Und ab dem Moment, an dem Josef Köberl seine Langlaufroller und -stecken im Büro ins Eck gestellt hat, sieht dem Wiener Ministerialbeamter niemand an, dass er ein bisserl anders als so ziemlich alle seine Kollegen ist.

Langlauf im Sommer

Dass Köberl soeben mit kurzen, mit Rollen vorn und hinten ausgestatteten Langlaufskiern von Floridsdorf ins Zentrum gefahren ist, ist da nur ein Nebenaspekt, ein Detail. Dennoch passt es punktgenau, um Josef Köberl zu beschreiben: Dass einer, der im Winter in der Donau schwimmt, im Sommer und im Herbst langläuft, ist eigentlich schon wieder stimmig. Und dass einer, der Kurse und Seminare gibt, um Durchschnittsmenschen die Freude am Plantschen zwischen Eisschollen näherzubringen, sich wundert, dass außer ihm kaum jemand in der Stadt mit sogenannten Skirollern unterwegs ist, auch: "Ich fahre das ganze Jahr so zur Arbeit. Das sind täglich zweimal 14 Kilometer Supertraining. Für mich ist Skirollern besser als Radfahren, es macht mir auch mehr Spaß."

Mit Skirollern lässt sich auch in Zeiten des Klimawandels in und rund um Wien Langlauf trainieren.
Foto: Heribert Corn/www.corn.at

Freilich: "Unkundigen" würde Köberl das Langlaufen im Stadtverkehr nicht empfehlen, stressig ist es nämlich schon. "Aber Wien ist insgesamt eine ideale Langlaufstadt: Donauinsel, Donaukanal, Prater – und wer will, kann auf dem Donauradweg sogar bis nach Tulln oder Krems Skirollern! Nur tut das halt nur eine Handvoll Leute."

Dass sich das langsam ändern könnte, ist auf den zweiten Blick vielleicht gar nicht so abwegig. Und schuld daran, dass mehr Menschen die Freude am Wintersport Langlaufen entdecken, könnte – ausgerechnet! – der Klimawandel sein: Dass es in und um Wien mit jedem Jahr immer weniger Schnee gibt, lenkt den Fokus nämlich auf Trainingsgeräte, mit dem Elite- und Wettkampflangläuferinnen und -läufer von jeher in der schneelosen Zeit trainieren: Skiroller eben.

Gerade Wien, gerade der Donauraum hat da Potenzial: Die endlosen, brettelebenen und autolosen Freizeitasphaltbänder entlang der Donau. Bloß hat das außer ein paar "Spinnern", die ausnahmslos Ausdauer- und Leistungsporthintergrund haben, bis jetzt eben kaum jemand bemerkt: Jedermann-Skirollern gibt es nicht. Noch nicht. Langlaufen ist nach wie vor als "schneegebunden" in den Köpfen verankert. Auch in der Nicht-Schnee-Stadt-Wien. Hier gibt es Loipen. Auf dem Papier zumindest: entlang der Hauptallee. Auf der Donauinsel. Auf den Wienerberggründen. Beim Cobenzl. Weil es in der vergangenen Jahren aber zu selten und zu wenig geschneit hat, wurde der Loipenpflegevertrag zwischen Sportamt und einer Loipen-Pflege-Firma schon vor einigen Jahren aufgelöst.

Loipenlos

Wer in Wien heute langläuft, weiß Werner Burmann, hat es also schwer – und muss Überzeugungstäter sein: "Zwei Stunden Autofahrt braucht man bis zur nächsten brauchbaren Loipe", sagt das Vorstandsmitglied des Wiener Skiverbands (WSV). Burmann ist auch einer der Köpfe des Nordischen Skiclubs Wien, dem letzten Wiener Langlaufverein. Weil im Leistungs- und Wettkampfsport spezifisches Training im Sommer nicht aufhört, gehört Skirollern hier zum Programm – und ist längst als eigene Disziplin etabliert.

Mehr noch: Seit zwei Jahren gibt es einen österreichischen Skiroller-Sommercup, erklärt der beim ÖSV für den Langlaufnachwuchs und nordische Medienarbeit zuständige Thomas Courtre. Wenn Spitzensportlerinnen und Spitzensportler da spektakulär und mit bis zu 70 km/h über – dann natürlich abgesperrte – hügelige Nebenstraßen brettern, habe das mittelfristig "natürlich Auswirkungen auf den Breitensport".

Herz-Kreislauf-Training

Einen Aufschwung erwartet sich WSV-Nordic-Mann Burmann auch für den Wiener Raum – zum einen wegen der sicheren und niederschwelligen Möglichkeit, auf den flachen und autolosen Donau-Wegen zu schnuppern, zum anderen, weil auch der WSV auf den Werbeeffekt von lokalen Skirollerwettkämpfen setzt: Pläne für ein Rennen bei der Sophienalpe seien weit gediehen, "das Potenzial ist da".

Noch dazu, wo höhere Temperaturen die Angst der Komfortzonenbewohnerinnen und -bewohner vor Kälte und Wind wegfallen lassen: "Langlaufen", betont Mario Felgenhauser, der Kopf des größten deutschsprachigen Langlaufportals XC-Ski.de, "ist aufgrund seiner impactlosen und gelenkschonenden Bewegungen ein ideales, altersloses Training. Für das Herz-Kreislauf-System ebenso wie für die Muskulatur." Das Dilemma der immer schneeärmeren Winter kennt Felgenhauser auch aus deutschen Tief- und Mittellagen. Genau das, ist er aber überzeugt, "wird zu einem Umdenken führen", aber auch Newbies ansprechen. Mit "aber" im Kleingedruckten: "Skiroller haben im Gegensatz zu Inlineskates keine Bremsen. Aber die Industrie tüftelt. Wenn sie das gut hinkriegen, wird das in die Breite gehen."

Technisch – auch vom Funktionalen und vom Bewegungsablauf her – sind Skiroller heute sehr nahe an Langlaufskiern, erklärt Tanja Winterhalder. Beim Rieder Ski-Riesen Fischer spricht sie für die nordische Welt. Skiroller für klassisches Langlaufen unterscheiden sich – vereinfacht gesagt – von jenen fürs Skaten vor allem durch einen Rückroll-Stopp. Es gibt aber auch umschaltbare Kombimodelle. Abgesehen davon lässt sich die Winterausrüstung, also Stöcke und Schuhe, eins zu eins verwenden. Das Bremsproblem der Anfänger sollen Mechanismen lösen, die am Schuh montiert werden. Denn die Roller kosten in der "Basic"-Ausführung nicht die Welt: Ab 200 Euros sei man dabei.

Dennoch weiß die Ski-Sprecherin aus Ried, dass die Hardware ein "Henne-Ei-Problem" ist: Langlaufen sei immer noch alternativlos mit Winter verknüpft. Ohne Nachfrage abseits des Winters gebe es im Handel aber kein Angebot. Auch nicht zum Ausleihen – also zum reinen Schnuppern. Für den Wiener Raum wüssten weder Hersteller noch ÖSV oder WSV eine Anlaufstelle: Erst ab Seefeld, also in klassischen Langlauf-Hochburgen, werde man fündig.

Die Insta-Roller-Models

Die wenigen, die in Wien und im Wiener Umland auf Skirollern unterwegs sind, wissen das. Sie sind sich ihres Exotenstatus sehr bewusst – und kokettieren mitunter auch gerne mit der Aufmerksamkeit des staunenden Publikums. So wie die Brüder Jan und Matti Waldner: Die ehemaligen Kaderlangläufer haben als "Stew-Crew" auf Instagram und auf den Freizeitasphaltbändern rund um Wien mittlerweile eine treue Fangemeinde aufgebaut.

Als STEW-CREW haben die Ex-Kader-Langläufer Jan und Matti Waldner wohl auch dank ihrer Offenherzigkeit auf Instagram eine ziemliche Fangemeinde.
Foto: Heribert Corn

Dass das zum Teil auch der – sagen wir – Offenherzigkeit geschuldet ist, mit der die beiden ihr Treiben dokumentieren, mag stimmen. Andererseits sind solche Körper aber auch Beleg dafür, dass "Langlaufen das vermutlich ganzheitlichste Training ist, das es gibt" (Zitat Jan Waldner). Und der Klimawandel macht, übertrieben flapsig formuliert, klassische Langlauf-Outfits ja ohnehin obsolet. Waldner sieht sich nicht als Klimabotschafter, aber sehr wohl als Trendsetter: "Ohne Schnee entdecken sicher etliche in den nächsten Jahren die Skiroller."

Die Waldners wollen Verbissenheit im Sport durch Spaß ersetzen.
Foto: Heribert Corn

Dass Vertreter der reinen Lehre des Sportes die Augenbrauen hochziehen, irritiert die Waldners nicht: "Wir waren lange genug im Spitzensport, um zu wissen, mit welchem Bierernst viele das sehen. Gerade im Langlauf. Wenn wir Verbissenheit durch Spaß ersetzen können, ist das doch super. Vielleicht macht es ein paar Leuten sogar Lust, auch Sport zu machen." (Tom Rottenberg, 19.11.2021)