Afghanische Frauen protestieren gegen die Taliban im Oktober 2021 in Kabul.

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Mein Name ist Razia Barak Heydari, aber ich bin als Razia Barakzai bekannt, und ich wurde in der Provinz Farah geboren, einer von 34 Provinzen Afghanistans, im südwestlichen Teil des Landes, in der Nähe zu Iran. Ich bin 26 Jahre alt und das einzige Kind meiner Eltern. Mein Vater war während seiner langen Dienstjahre im Bereich der Verteidigung als Kommandeur der Sicherheitskräfte in Afghanistan tätig. Er ist jetzt im Ruhestand, meine Mutter ist Hausfrau.

Ich habe einen Bachelor in Politikwissenschaften der Universität Herat und einen Masterabschluss der Universität Kabul. Schon während meiner Studienzeit gehörte ich immer zu den aktiven Mädchen – und wann immer ich mich zu Wort meldete, tat ich dies im Namen der Gerechtigkeit. Wie Tausende afghanischer Frauen wollte auch ich arbeiten, auf eigenen Füßen stehen und meiner Heimat, meinem Volk dienen.

Wie vor 20 Jahren

In letzter Zeit hat mich zusätzlich motiviert, aktiv zu sein, dass ich Berichte hörte, dass mit dem Erstarken der Taliban die Rechte der Frauen abgeschafft werden und wir wieder dort stehen würden, wo wir vor zwanzig Jahren verzweifelt gestanden haben. Eine Zeitlang war ich als Universitätsprofessorin in Kabul tätig.

Außerdem arbeitete ich für die Wahlkommission und war dreieinhalb Jahre lang in verschiedenen Abteilungen eingesetzt, unter anderem im Präsidialamt, das fünf meiner Projekte genehmigte und umsetzte – darunter der Bau von Nationalen Friedensparks in den Provinzen Herat und Nangarhar und die Möglichkeit, Beschwerden und Petitionen online einzureichen. Als ich zu arbeiten begann, bat ich meine Eltern aufgrund der instabilen Sicherheitslage, zu Hause zu bleiben. Auf diese Weise wurde ich die Ernährerin der Familie.

Bis zum Fall von Kabul im August 2021 lag mein Verantwortungsbereich beim Präsidialamt bei eingereichten Petitionen aus dem Bereich der Wirtschaft. Mein letzter Tag im Präsidialamt war ebenjener Sonntag, der 15. August 2021. Im Laufe dieses Tages wurden wir aufgefordert, den Palast zu verlassen. Ich sah Menschen, die um ihr Leben rannten. Die Taliban drangen noch am selben Tag in den Präsidentenpalast in Kabul ein. Als ich sicher zu Hause war, kam es mir vor wie ein Déjàvu – die Rückkehr der Taliban war wie eine Wiederholung dessen, was vor über 20 Jahren schon einmal geschehen war.

Unsere Stimme erheben

Was war also zu tun? Nach Gesprächen mit jungen Frauen, die ebenfalls aus der Provinz Farah kommen, waren wir uns einig, dass wir nicht länger schweigen, sondern unsere Stimme erheben mussten. Schweigen ist das Akzeptieren von Macht. So beschlossen wir, uns auf zwei Aufgaben zu konzentrieren: Zum einen wollten wir Protest zeigen, demonstrieren und die Stimme der afghanischen Frauen werden.

Wir wussten, dass die internationale Beobachtung den Taliban sehr wichtig war. Daher dachten wir, wir könnten dem Prozess der Entrechtung von Frauen zumindest entgegenwirken oder ihn sogar aufhalten. Wir hatten nicht vergessen, dass in der ersten Phase der Taliban (1996–2001) der extremistische Talib Maulvi Qalamuddin als stellvertretender Minister "für die Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern" Vorschriften erlassen hatte, die das Leben von Frauen zur Hölle machten und die nun wieder aktiviert werden würden: darunter das Verbot, Schuhe mit höheren Absätzen zu tragen, denn Frauen sollen beim Gehen keine Geräusche machen; das Verbot, in einem Auto vorne zu sitzen, oder das Verbot einer Untersuchung einer Frau ohne Hijab durch einen männlichen Arzt, was bedeutet, dass man keine Untersuchung durchführen kann.

Unser Plan war, die Taliban in Kabul mit Frauen zu konfrontieren, die für die Unverletzlichkeit ihrer Rechte kämpften. Sie sollten sehen, dass diese Frauen keine Angst hatten, dass sie nicht mehr die afghanischen Frauen von vor 20 Jahren waren. Ich bin überzeugt, dass es ein Recht auf Arbeit gibt, ich bin in meinem Fall ganz allein dafür verantwortlich, meine Familie durch meine Arbeit zu unterstützen.

Wachsender Protest

Über die sozialen Medien hatten wir uns an ein Netzwerk afghanischer Frauen gewandt, aber leider weigerten sie sich, uns zu unterstützen. Viele der Frauen in den Netzwerken hatten ihre Profilbilder gelöscht und sie durch falsche Profilnamen ersetzt. Das hat mich sehr erschüttert. Warum haben wir so viel Angst?

Ich versuchte jede Frau aus diesem Netzwerk zu kontaktieren, erhielt jedoch von fast allen eine negative Antwort. Ich war aber der festen Überzeugung, dass wir jetzt kämpfen mussten – es gelang mir, fünf von ihnen zu überzeugen. Nachdem wir uns von unseren Familien verabschiedet hatten, die nichts von der Sache wussten, hatten wir keine große Hoffnung auf eine Rückkehr. Wir wussten nicht, was auf uns zukommen würde.

Am 16. August 2021 machte ich mich mit zwei Frauen auf den Weg und entschied mich für eine Demonstration auf dem Sanbaq Platz, auf einer Kreuzung vor dem Präsidentenpalast. In der Hand hielten wir ein Papierblatt, auf dem in Dari, Pashto und Englisch zu lesen war: "There are Afghan women" (Es gibt afghanische Frauen). Als wir uns dem Tor des Präsidentenpalastes näherten, eilten die Wachen mit ihren Waffen herbei und zerrissen unsere Papiere, ohne zu verstehen, was darauf stand. Sie konnten vermutlich nicht lesen. Da ich Ersatzblätter in meiner Tasche hatte, verteilte ich diese.

Mangelnde Unterstützung

Natürlich hatten wir Angst. Wir zitterten von Kopf bis Fuß, als ein gepanzertes Fahrzeug auf uns zukam und jemand fragte, was wir wollten. "Geht nach Hause!", sagten sie uns. Da sich alles in der Öffentlichkeit abspielte, wurden wir von allen Seiten mit Mobiltelefonen gefilmt, was uns vielleicht gerettet hat, denn die Wachen fürchten die sozialen Medien. Ich hatte mehr Angst um das Leben meiner Freundinnen als um mein eigenes, weil der Protest von mir geplant gewesen war.

Aber viele weitere Demonstrationen folgten. Es gelang uns, mehr und mehr Frauen zu aktivieren. Am 4. September 2021 marschierten bereits über 50 Frauen zum Präsidentenpalast. Die Proteste werden aber von vielen Familien abgelehnt. Zwei der Mädchen, die mit uns unterwegs gewesen waren, durften nicht nach Hause zurückkehren, weil in ihrer Nachbarschaft Taliban lebten und die Familien sich nun bedroht fühlten.

Die mangelnde Unterstützung für Frauen und Mädchen ist ein ernstes Problem in unserer Gesellschaft. Auch aus diesem Grund trugen wir bei unserem ersten Protest alle sehr korrekte islamische Kleidung. Wir fürchteten auch die Reaktion der afghanischen Gesellschaft, also der Menschen um uns herum. In Afghanistan werden dieselben Töchter, die in der ganzen Welt für ihren Mut gelobt werden, nicht selten von ihren eigenen Familien verstoßen.

Die Angst in der Gesellschaft

Wir hatten Angst, durch die Hand unserer eigenen Leute zu sterben und eine weitere "Farkhund" zu werden – Farkhunda Malikzada, die als 27jährige Studentin im März 2015 in Kabul von einem Mob wütender Männer zusammengeschlagen und ermordet wurde. Sie filmten mit ihren Handys das grausame Geschehen und verbreiteten die Bilder in den sozialen Medien. Man hatte Farkhunda fälschlicherweise vorgeworfen, sie habe in der Moschee ein Exemplar des Koran verbrannt, nachdem sie sich mit einem Mullah gestritten hatte.

Nachdem wir unsere Botschaft vor dem Präsidentenpalast zum Ausdruck gebracht hatten, zogen wir in das Shahre-Now-Viertel, direkt im Zentrum der Stadt. Der nächste Schritt bestand darin, die Angst in der Gesellschaft zu brechen.

Viele Menschen lobten zwar unseren Mut und Stolz, aber niemand erhob die Stimme für uns. Aus Angst. Auf unseren Kundgebungen mussten wir Beleidigungen der Taliban und anderer Männer ertragen: "Sie wollen sich wichtig machen, weil sie in eines dieser Flugzeuge steigen wollen", schrie einer, und ein anderer rief: "Sie sind schamlos."

#there_are_afghan_women

Auf der anderen Seite wurde bereits später an diesem Tag unser Hashtag #there_are_afghan_women in den sozialen Medien verbreitet, und es war für mich unglaublich zu sehen, wie all die Frauen, die sich ursprünglich aus Angst geweigert hatten, sich uns anzuschließen, jetzt mit dabei waren. Außerdem hatten sie nun keine Angst mehr, ihre Fotos online zu stellen. Schließlich wurden verschiedene Journalistinnen und Journalisten auf unsere Stimmen aufmerksam, da die Videos in den sozialen Medien hochgeladen worden waren.

Unsere Proteste hatten also stark begonnen. In nur wenigen Tagen konnten wir die Angst in der Gesellschaft brechen, im ganzen Land herrschte Aufruhr. Weitere Gruppen von Frauen, z. B. auf WhatsApp, stießen zu uns. Innerhalb von wenigen Stunden hatten wir über 300 Mitglieder. Leider gelang es den Taliban schnell, unsere Gruppen zu infiltrieren. Einige unserer Nachrichten wurden als Screenshots an den Geheimdienst der Taliban weitergeleitet. Das bedeutete, dass Spioninnen in unsere Gruppen eingedrungen sein mussten.

Ständige Ortswechsel

Als ich eine an mich gerichtete Nachricht erhielt, in der stand, dass wir Ungläubige und Abtrünnige seien, die nach der Scharia bestraft werden sollten, antwortete ich: "Welches Verbrechen, welche Sünde haben wir begangen?" Als Antwort erhielt ich einen Screenshot unserer WhatsAppGruppe. Alle Aktivistinnen unserer Gruppe erhielten Drohungen. Eine Frau wurde an einen unbekannten Ort gebracht.

Auch wir mussten nun ständig unsere Aufenthaltsorte wechseln und verbrachten Tage und Nächte an verschiedenen Plätzen. Auch ich erhielt ständig SMS von den Taliban, geschickt von verschiedenen, sogar pakistanischen Nummern, in denen mir mit dem Tod gedroht wurde.

Von meinen Freundinnen erfuhr ich, dass in meiner Geburtsstadt zwei Wochen zuvor zwei Frauen, beide Lehrerinnen, getötet worden waren, weil die Taliban dachten, eine von ihnen sei ich. Ich bin mir sicher, dass es so war, weil die Mörder unbekannt blieben und kurz nach diesem Vorfall die Nachricht von meinem Tod in den Medien verbreitet wurde.

Weitere Demonstrationen

Nahid Shahalimi (Hg.), "Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan". 22,– Euro / 144 Seiten. Elisabeth- Sandmann-Verlag, 2021
Cover: Elisabeth Sandmann Verlag

Nachdem ich eine direkt an mich gerichtete Nachricht vom stellvertretenden Geheimdienstchef der Taliban aus der Provinz Farah erhalten hatte, in der es hieß: "Sie werden mit einer harten Reaktion rechnen müssen", beschloss ich, Afghanistan zu verlassen. Ich reiste heimlich nach Mashhad im Iran, versteckte meine Papiere am Körper und trug stundenlang eine Burka. Aber auch hier war ich nicht davor sicher, von Talibanspionen verfolgt zu werden. Jetzt bin ich erneut umgezogen und lebe in einer anderen Stadt.

Auf unsere Proteste wurde mit Gewalt reagiert: Die Demonstrantinnen wurden mit Gewehrkolben, Pfefferspray, Tränengas, Elektroschocks und Peitschen gequält und bedroht. Wir haben daher beschlossen, unsere Aktionen in größeren Abständen durchzuführen. Wir sind nun dabei, diese Bewegung durch Pressekonferenzen, Artikel, Videoclips und Onlinekundgebungen strategisch voranzutreiben. Unsere Gruppen sind mittlerweile groß, und unsere ursprüngliche Zahl von fünf Personen ist auf über 600 angewachsen.

Wir haben zivile Aktivistinnen aus der ganzen Welt, und unser Ziel ist es, die Welt mit uns selbst zu vereinen. Zugleich bereiten wir weiter Demonstrationen vor. Der 10. Oktober 2021 ist bereits als Tag der Frauensolidarität gegen die Taliban ausgerufen worden. Wir hoffen weiter auf eine weltweite Beteiligung an unseren Protesten. Wenn die afghanischen Frauen überall in Afghanistan oder auch in der Welt ihre Stimme erheben, ist dies ein Zeichen unserer Einheit und Solidarität. (Razia Barakzai, ALBUM, 21.11.2021)