Splitterndes Glas, verbogener Stahl, binnen Sekunden verwüstete Stadtviertel. Die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 teilte die jüngste Geschichte der libanesischen Hauptstadt in ein Davor und ein Danach. Mitten in der apokalyptischen Szenerie ragte ein Gebäude empor, dreizehn Geschosse hoch, sandgelb und massiv, mit tief eingeschnittenen Öffnungen, solide wie ein Fels, und nahezu unbeschädigt. Ein Fremdkörper in der Skyline Beiruts, die von schnellem Geld und Spekulation geprägt ist, wo Spiegelglas für Penthousemehrwert steht. Ein Überlebender.

Das Hochhaus Stone Garden in Beirut von Lina Ghotmeh.
Foto: Iwan Baan

Stone Garden ist der Name dieses Gebäudes, das zum Zeitpunkt der Explosion gerade ein Jahr alt war. Seine Architektin ist Lina Ghotmeh, 1980 in Beirut geboren, seit 2016 führt sie ihr Büro in Paris. Die Erfahrung ihrer Kindheit in einer Stadt des Bürgerkriegs, die einen scheinbar ewigen Zyklus von Zerstörung und Wiederaufbau durchlebt, hat sie stark geprägt. Wenn man damals durch die Stadt ging, sagt sie, wusste man nie genau, ob ein Loch in einer Fassade ein Fenster oder Resultat einer Detonation war.

Als sie den Auftrag für ein Hochhaus in ihrer Heimatstadt bekam, entschied sie sich nicht für Eskapismus, sondern für Konfrontationstherapie. Auch die tiefen Öffnungen in der rauen Fassade des Stone Garden erinnern an Einschusslöcher. Archäologie der Zukunft nennt Lina Ghotmeh, die als Kind nicht Architektin, sondern tatsächlich Archäologin werden wollte, ihre Herangehensweise. "Für mich ist Architektur ein Graben in der Vergangenheit, die in die Zukunft projiziert wird", sagt sie. "Eine Archäologie, die die verschüttete Geschichte freilegt, von den Phöniziern über die Römer bis zur Explosion von 2020. Stone Garden ist tiefverwurzelt in dieser Erde. Im Herzen trägt das Gebäude die besondere melancholische Euphorie dieser Stadt."

Schelling-Preisträgerin Lina Ghotmeh.
Foto: Hannah Assouline

Therapeutische Wucht

Auch der Prozess des Bauens, sagt sie, war eine Art therapeutische Heilung für alle Beteiligten. "Die Handwerker, die die Haut des Gebäudes von Hand meißelten, entwickelten einen eigenen Kamm als Werkzeug. Die Passanten berührten den Stein. Wir alle spürten eine starke emotionale Bindung zu diesem Gebäude. Es ist wie eine Erweiterung unserer Körper. Ich glaube, der Raum an sich ist nicht nur einfach Raum, er ist ein Teil von uns. Durch die Explosion 2020 nahm dies eine dramatische Dimension an. Was passiert mit uns, wenn der Raum, in dem wir uns befinden, zusammenbricht? Auch wenn wir körperlich unversehrt sind, spüren wir diese Verletzung intensiv und sind von ihr gezeichnet."

Nicht alle ihre Bauten sind von solch therapeutischer Wucht, doch alle erzählen sie Geschichten über den Ort, an dem sie stehen. Das estnische Nationalmuseum in Tartu, ihr erster großer gewonnener Wettbewerb, taucht als zarter Hangar aus dem Beton einer alten Flugzeuglandebahn hervor, wird immer höher und leichter, bis er sich in Schleiern aus Glas auflöst.

41 Jahre alt ist Lina Ghotmeh, für eine Architektenkarriere ist das sehr jung, und doch wurde sie bereits mit zahlreichen Preisen gewürdigt. Jetzt darf sie sich einen neuen ins Regal stellen, und keinen kleinen: Diese Woche wurde ihr (mit einem Jahr Covid-bedingter Verspätung) der mit insgesamt 30.000 Euro dotierte Schelling-Architekturpreis 2020 verliehen. Die 1992 in Karlsruhe von Trude Schelling-Karrer und Heinrich Klotz gegründete Schelling-Stiftung und ihre Jury haben sich stets als zuverlässiger Indikator für Talent und späteren Ruhm erwiesen, man darf sich also noch vieles von Lina Ghotmeh erwarten.

Mallorca und China

Wohnhaus von TEd’A Arquitectes auf Mallorca
Foto: Hisao Suzuki

Doch auch die anderen beiden Nominierten, die in ganz anderen Weltregionen ein einer Art Architekturarchäologie arbeiten, sind längst keine Unbekannten mehr. Irene Pérez und Jaume Mayol vom Büro TEd’A Arquitectes in Palma de Mallorca zum Beispiel. Ihre Bauten auf der Insel sind fern vom weiß getünchten Finca-Bild der Tourismusbroschüren, sondern greifen weit in die Geschichte und ihre lokalen Handwerkstraditionen. Sie wirken rau, archaisch, fast römisch. Ziegelwände, unverputzt, manchmal halb fertig wirkend, kombiniert mit Sichtbeton, dazwischen viel Raum für zirkulierende Luft. Dazu kommt eine an die Antike erinnernde Vorliebe für Bögen und Halbkreise, mal als Tonnengewölbe oder Apsiden. Von außen wirken ihre Bauten oft wie monolithische Felsen, innen sind sie ausgehöhlt und perforiert, Wunderkammern voller Nischen, Atrien, Patios und Gärten, die das Haus durchwuchern.

Museum von
Xu Tiantian in Songyang
Foto: Wang Ziling

Handwerk als Heilungsprozess und Träger von Baukultur: Das kennzeichnet auch die Arbeit von Xu Tiantian, die 2003 ihr Büro DnA in Peking eröffnete. Auf ihre Initiative geht der Wiederaufschwung der ländlichen Region Songyang in der Provinz Zhejiang zurück, der weltweit Beachtung fand.

Die 400 Dörfer waren durch Landflucht fast entvölkert, dann wurde der Region neues Leben eingehaucht. Eine kleine Fabrik zur Zuckeraufbereitung, ein Gemeinschaftshaus, ein Bambuspavillon, ein Museum für die Kultur des Hakka-Volks und eine Brücke zwischen zwei Dörfern.

Geplant und gebaut von der Architektin, gemeinsam mit lokalen Handwerkern, mit Bauleitung teilweise via Smartphone aus Peking. Das gebaute Ergebnis ist weder ein Zufallsprodukt noch ruraler Kitsch, sondern bis ins Detail durchdacht und auf Dauerhaftigkeit angelegt. Auch hier wird die architektonische Brücke geschlagen von der Archäologie der Vergangenheit in die Zukunft. (Maik Novotny, 19.11.2021)