Ein Spaziergang fühlt sich für die meisten Menschen zumindest nicht schlecht an.

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Die Fitnessstudios sind wieder geschlossen, viele tägliche Wege fallen weg. Der deutsche Sportpsychologe Ralf Brand erklärt, wieso ein Lockdown für manche eine sportliche Chance darstellen kann – und warum 15 Minuten Bewegung schon reichen können.

STANDARD: Sie haben zum Bewegungsverhalten der Menschen im ersten Lockdown geforscht. Dafür wurden 14.000 Menschen in 18 Ländern befragt. Wie sportlich waren wir denn damals?

Brand: Wir hatten befürchtet, dass die Menschen sich nicht mehr bewegen, sobald die Fitnessstudios geschlossen sind und sie somit eine gute Ausrede haben. Das war bei erstaunlich vielen Menschen nicht der Fall. Viele, die schon vor Corona regelmäßig Sport gemacht haben, haben sich eine Bewegungsform gesucht, die im Lockdown funktioniert, etwa Home-Workouts. Und unerwartet viele, die vor dem Lockdown ihr Leben lang auf dem Sofa gesessen waren, sind plötzlich spazieren gegangen. Das zeigt, dass die Menschen durchaus einen Drang haben, sich zu bewegen, und dass sie das machen, weil es ihnen etwas gibt. Evolutionär bedingt scheuen Menschen die Dinge eher, wenn sie ihnen unangenehm sind.

STANDARD: In Österreich stecken wir mittlerweile im vierten Lockdown. Warum sollte man sich gerade in Zeiten wie diesen zu Bewegung aufraffen?

Brand: Die Quintessenz unserer Studie zum ersten Lockdown war, dass diese Zäsur auch eine Chance sein kann. Viele Menschen sagen ja immer, sie haben keine Zeit für Sport. Das muss man ernst nehmen, denn subjektiv erleben sie das so. Aber im Lockdown lässt sich eben auch die Zeit ein wenig anders strukturieren. Dann findet man unter Umständen endlich 15 Minuten am Tag für Bewegung.

STANDARD: 15 Minuten?

Brand: Mir ist es zunächst einmal völlig egal, ob man eine Stunde laufen geht oder 15 Minuten spazieren. Wichtig ist, dass man es macht. Wenn man sich durch Bewegung Wohlbefinden verschaffen möchte, kommt es vor allem darauf an, in welcher Belastung sie stattfindet. Wer nach langer Zeit zum ersten Mal wieder Sport macht und sich dann zu intensiv belastet, wird sich sehr bescheiden fühlen und es sich gut überlegen, ob er sich das noch einmal antun will. Vernünftiger ist, die Intensität am Anfang immer ganz niedrig zu halten. So erleben Menschen, dass Bewegung nicht wehtut. Wenn man sich daran gewöhnt hat, jeden Tag 15 Minuten spazieren zu gehen, wird man irgendwann automatisch etwas flotter werden. Unser Körper bringt ja eine fantastische Eigenschaft mit: Er adaptiert. Wenn der fünfmal zum Spazieren geschickt wird, reagiert er mit Anpassung. Dann ist es plötzlich weniger anstrengend und man fühlt sich besser dabei.

STANDARD: Aber warum tun wir uns so schwer mit der Bewegung im Alltag?

Brand: Das Kernproblem ist, dass Menschen ein falsches Bild davon haben, was sie machen müssen. Am Anfang ist es, wie gesagt, erst einmal gar nicht wichtig, ob die Bewegung anstrengend genug ist. Zur Erklärung: Wenn der menschliche Organismus unter körperliche Belastung gesetzt wird, merkt man, dass das Herz schneller schlägt, dass die Atmung tiefer und schneller wird. Das Interessante daran ist: Bei leichter körperlicher Belastung – das ist ein Spaziergang – sind sich die meisten Menschen einig, dass sich das zumindest nicht schlecht anfühlt. Das weckt keine unangenehmen Gefühle.

STANDARD: Und bei höherer Belastung?

Brand: In der mittleren Belastung speist sich das Gefühl, wie es mir geht, nicht mehr nur aus der körperlichen Wahrnehmung. Wir beginnen zu schwitzen, das Herz schlägt schneller. Diese Signale dringen in unser Bewusstsein. Und wir bewerten sie kognitiv. Manche mögen, dass es ein bisschen anstrengender wird, weil sie bereits gelernt haben: Das gehört dazu, ist gar nicht so schlimm und ist sogar gesund. Bei anderen führt schon die exakt gleiche Wahrnehmung zu Unbehagen. Hohe und sehr hohe Belastung – das sind die letzten zwei Kilometer bei einem Marathon oder die letzten zwei Minuten bei einem Belastungs-EKG – fühlen sich hingegen für alle Menschen gleichermaßen unangenehm an.

STANDARD: Die WHO ist eindeutig in ihren Bewegungsempfehlungen: 150 bis 300 Minuten pro Woche in moderater Intensität oder 75 in hoher Intensität.

Brand: Diese Empfehlungen sind gut für Menschen, die bereits gelernt haben, dass diese körperliche Empfindung beim Sport gut ist. Aber sie sind ganz fürchterlich für Menschen, die bei null starten. Sie sind damit überfordert und hören gleich wieder auf. Wer mit deutlich niedrigerer Intensität anfängt und erst einmal lernt, die für Bewegung notwendige Extrazeit in den Alltag zu integrieren, wird sein Verhalten so ändern, dass er relativ schnell bei den Minimalempfehlungen der WHO ist.

STANDARD: Manche machen gerade jetzt Sport, um sich besser zu fühlen. Trifft das immer zu?

Brand: Nein. Eine dauerhafte Verbesserung des Wohlbefindens stellt sich nicht automatisch und nicht gleichermaßen bei jedem ein. Das Wohlbefinden steigert sich am meisten bei Menschen, die bereits gewohnt sind, körperlich aktiv zu sein, das haben wir auch bei der eingangs erwähnten Studie gezeigt. Die, die vor dem Lockdown nichts gemacht haben und dann aktiv wurden, haben erst einmal keine Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden bemerkt. Aber leider steht in vielen Lehrbüchern immer noch, dass Sport per se Spaß macht und immer gut für das Wohlbefinden sei.

STANDARD: Woran liegt das?

Brand: Man weiß heute, dass das ein Messfehler war. Bei vielen Sport-Studien, für die in der Vergangenheit Freiwillige gesucht wurden, haben sich nur ohnehin bereits Sportliche gemeldet. Dass die sich nach dem Sport gut fühlen, ist klar. Darum hat man jahrelang gesagt: "Leute, treibt doch einfach Sport, dann geht es euch besser." Aber das ist nicht bei jedem Menschen gleichermaßen so. Wenn eine trainierte Frau mit ihrer unsportlichen Freundin joggen geht und ein für sie moderates Tempo wählt, wird das für die Trainierte ein tolles Erlebnis sein – und für die andere nicht. Also: Richtig, Sport kann das Wohlbefinden steigern. Und zwar dann, wenn man es richtig macht und gelernt hat, dass es funktioniert. Bei fast allen klappt das im niedrigintensiven Bereich. Spaziergänge haben die größte unmittelbare Wirkung bei depressiven Verstimmungen.

STANDARD: Darum sind wir in den letzten Lockdowns also so viel spaziert. Wie bleibt man dauerhaft dabei?

Brand: Zwei Maßnahmen sind empirisch belegt. Erstens: Bilden Sie Vorsätze! Also machen Sie ganz konkrete Mini-Pläne, zum Beispiel wann Sie um wie viel Uhr mit wem spazieren gehen wollen. Zweitens: Schaffen Sie Erinnerungshilfen! Das kann ein Post-it am Badezimmerspiegel sein, mit dem man sich selbst an den Spaziergang erinnert. Oder die Trekking-Schuhe, die mitten im Hausflur stehen. Räumen Sie die bloß nicht in den Schrank! (Franziska Zoidl, 27.11.2021)