STANDARD: Warum hat uns die Pandemie so kalt erwischt?

Gabriel Felbermayr: So ein großes gesundheitspolitisches Ereignis gab es in Europa seit kurz nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. Wir haben es verabsäumt, nach Asien zu blicken, wo Epidemien immer wieder auftreten und bewältigt werden müssen. Obwohl es immer wieder Warnungen gab, wurde die Gefahr in Europa und in den USA völlig ausgeblendet.

"Der Datenschutz schränkt die Durchgriffsmöglichkeiten des Staates bei der Pandemiebekämpfung ein", sagt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr.
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STANDARD: Wie hätte man anders reagieren können?

Felbermayr: Wir standen plötzlich vor sich füllenden Intensivstationen. Das und etwa die Bilder von den Särgen aus Bergamo haben dazu geführt, dass wir sehr schnell und unvorbereitet einschneidende Maßnahmen ergriffen haben. Eigentlich überall in Europa. Ich meine nicht nur Maßnahmen politischer Art, sondern auch private Maßnahmen, freiwillige Reaktionen. Die Menschen haben sich auch privat anders verhalten. Aber es verdichten sich die Hinweise, dass die Dosis nicht optimal war.

STANDARD: Das heißt konkret?

Felbermayr: Wir hätten in der ersten Welle entweder viel härter vorgehen können, wie das beispielsweise China gemacht hat. Das wäre die Zero-Covid-Strategie gewesen. Die Chinesen waren gut vorbereitet und wussten, dass man das Infektionsgeschehen nur mit Brutalität austreten kann. Oder wir hätten laxer vorgehen können, wie Schweden oder die USA. Jetzt müssen wir uns genau anschauen, wie gut unser Mittelweg funktioniert hat, wie hoch die Übersterblichkeit war und wie viel uns die Maßnahmen wirtschaftlich gekostet haben. Wenn die Epidemie dann endlich durchgerollt ist – hoffentlich im nächsten Jahr–, können wir schauen, welche Strategie am besten war. Und daraus lernen.

STANDARD: Es gibt wohl auch heute schon Lehren …

Felbermayr: Ja, man muss sich auch rechtlich auf solche Ereignisse vorbereiten. Wir haben neben der Versammlungsfreiheit und dem Recht auf Bildung für Kinder allerlei Rechte ausgehebelt, aber das Recht auf Datenschutz haben wir etwa nicht angetastet. Auch wenn wir funktionierende Institutionen haben, schränkt der Datenschutz die Durchgriffsmöglichkeiten bei der Pandemiebekämpfung auch ein.

STANDARD: Die Pandemie hat die Weltwirtschaft durcheinandergebracht. Ist die globalisierte Marktwirtschaft am Ende?

Felbermayr: Hierzu wurden viele Debatten sehr vorschnell geführt. Man hat die Krise des Gesundheitssystems zur Krise der Marktwirtschaft oder der Globalisierung gemacht. Freilich gibt es globale verteilungspolitische Fragen, wie etwa die um den Impfstoff. Wir impfen unsere Bevölkerung bereits mit der dritten Dosis, andere Länder haben nach wie vor kaum Zugang zu Impfstoff. Aber würde man Patente freigeben, die Forderung wurde ja vorgebracht, müsste man die hinzukommenden Impfstoffhersteller auch verpflichten, die Dosen an arme Länder zu verkaufen. Die Hersteller würden die Vakzine vermutlich lieber für einen guten Preis an reichere Länder verkaufen. Jede Regulierung bewirkt, dass mit weiteren Regulierungen nachgezogen wird. Wenn man Verteilungsfragen angehen will, ist es am besten, die betroffenen Ländern finanziell zu unterstützen.

STANDARD: Trotzdem hat die Pandemie die weltweiten Lieferketten durcheinandergebracht. Die Inflation ist zurück. Legt sich das wieder?

Felbermayr: Das Problem mit den Lieferketten ist in der Pandemie ja schon ganz früh aufgetreten, als das Virus in Europa noch gar nicht angekommen war. China hat Anfang 2020 schon die Fabriken in der Provinz Hubei dichtgemacht, die Folgen davon waren auch hier zu spüren. Kurz danach gab es auch in Norditalien Produktionsausfälle, in einer Region, aus der viele Vorprodukte kommen, die für Österreich wirtschaftlich relevant sind. Die Situation hat sich allerdings sehr schnell wieder normalisiert, die Produktion wurde im Sommer wieder hochgefahren. Was allerdings noch schneller hochfuhr als die Produktion, war die Nachfrage.

STANDARD: Die Nachfrage wonach?

Felbermayr: Vor allem die Nachfrage nach Industriegütern. Die Menschen sind aufgrund der Pandemie nicht auf Urlaub gefahren, sie haben auf Restaurantbesuche verzichtet und sich so ein großes Geldpolster aufgebaut. Das haben sie nicht nur angespart, sondern vielfach in dauerhafte Wirtschaftsgüter gesteckt, zum Beispiel in Unterhaltungselektronik. Das sind Güter, die werden irgendwo auf der Welt produziert, zum Beispiel in Asien. Die müssen dann transportiert werden. Das hat dazu geführt, dass nicht nur die weltweiten Produktionskapazitäten überlastet wurden, sondern auch die Transportkapazitäten in der Containerschifffahrt. Dazu kamen auch immer wieder Einschränkungen durch das Infektionsgeschehen und noch dazu die Blockade des Suezkanals durch ein querliegendes Frachtschiff. Diese Gesamtsituation belastet uns immer noch. Die Kapazitäten sind kleiner als vor der Krise, die Nachfrage ist größer. Und dazu kommen immer wieder kleinere Schocks. Diese Situation wird uns wahrscheinlich noch bis ins neue Jahr hinein begleiten.

STANDARD: Stabilisieren sich die Preise, wenn Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht finden?

Felbermayr: Wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt, steigen die Preise. Das führt nicht nur dazu, dass neue Produktionskapazitäten geschaffen werden, der eine oder andere Verbraucher wird dann auch darauf verzichten, ein Elektronikgerät zu kaufen. Es gibt aber auch größere Trends abseits der Corona-Krise, die sich auf die Lieferketten und Preise auswirken.

STANDARD: Welche sind das?

Felbermayr: Der Chipmangel. Die Nachfrage nach Chips ist nicht nur von der höheren Nachfrage nach Elektronikgütern getrieben, sondern auch etwa stark vom Trend zur E-Mobilität, der jetzt auch in den USA und Europa schneller durchstartet, als man bisher gedacht hatte. Die Chipproduktion ist extrem kapitalintensiv und stark konzentriert. Die Fabriken sind nicht darauf ausgelegt, mit 60 oder 70 Prozent Auslastung zu produzieren, sondern werden nahezu voll ausgelastet. Das bedeutet, dass die Produktion nur hochgefahren werden kann, wenn neue Anlagen gebaut werden. Dazu kommt, dass die Produktion eben in geostrategisch umstrittenen Regionen angesiedelt ist, zum Beispiel in Taiwan und in Südkorea. Wenn zwischen China und Taiwan ein Konflikt ausbricht, würde die Industrie in Europa stillstehen. Was wir sehen werden, ist, dass die Produktion nach Europa und in die USA zurückgeholt werden wird.

STANDARD: Wäre es nicht besser für die Versorgungssicherheit, wenn wichtige Güter möglichst im eigenen Land produziert werden?

Felbermayr: Der Trend geht in Richtung Fragmentierung der Wertschöpfungsketten. Und zwar auch aufgrund geostrategischer Konflikte. Wenn China etwa aus geostrategischen Gründen bestimmte Güter nicht an die USA liefert – oder umgekehrt –, weil man im anderen Land bestimmte ökonomische Prozesse nicht beschleunigt sehen will, kann es zu Versorgungsengpässen kommen. Deshalb versucht man, ein Stück weit unabhängig zu werden.

STANDARD: Ist das der richtige Weg?

Felbermayr: Man kann sich schon überlegen, zum Beispiel bei der Beschaffung wichtiger medizinischer Güter im öffentlichen Gesundheitssektor den Faktor Preis ein bisschen geringer zu gewichten und den Faktor Versorgungssicherheit ein bisschen höher. Man könnte höhere Vertragsstrafen für Lieferverzug vorsehen. Fakt ist aber auch, dass die Produktion der meisten Industriegüter bei weitem nicht so konzentriert ist, wie etwa bei Chips. Das Risiko ist entsprechend geringer. Und bei anderen Gütern, wie etwa Penicillin, ist die Produktion zwar stark konzentriert – aber technisch weniger komplex. Zur Not lässt sich eine Penicillin-Produktion einfacher hochfahren als eine Chipproduktion. Von heute auf morgen geht es freilich auch nicht.

STANDARD: Die europäische Klimapolitik kennt ein Instrument, das Produktionen vor dem Abwandern aus Europa schützen oder zurück nach Europa holen soll: den CO2-Grenzausgleich. Was halten Sie von der Maßnahme?

Felbermayr: Ich bin ein Befürworter aus der Not. Der Grenzausgleich ist notwendig, aber ich glaube nicht, dass er viel bringt. Teure Produkte aus Europa werden im Ausland weiter Wettbewerbsnachteile haben. Und bei Importen wird man mit allerlei Pauschalisierungen arbeiten, was dem Instrument die Zähne ziehen wird.

STANDARD: Welche Instrumente sind besser geeignet, um die Klimaneutralität zu erreichen?

Felbermayr: Es geht darum, dass wir grünen Strom in hinreichender Menge, hinreichend günstig und hinreichend schnell zur Verfügung stellen. Der CO2-Preis ist noch zu niedrig, und er wird aus sozial- und wettbewerbspolitischen Gründen auch nicht beliebig steigen können. Man muss sich daher fragen, ob neben Steuern nicht auch Subventionen nötig sind. Außerdem müssen wir es schaffen, mehr Geld für Forschung und Entwicklung bereitzustellen, besonders in den Unternehmen. Aber wir müssen das Thema wirklich global angehen. Aus klimapolitischer Sicht wäre es schlecht, wenn irgendwo in der Welt beispielsweise ein Patent für die Produktion von sauberem Stahl angemeldet wird und nur in einem Land eingesetzt wird. Wir brauchen die Möglichkeit, neue Technologien weltweit möglichst schnell auszurollen. (Aloysius Widmann, Magazin "Portfolio", 23.12.2021)