Die Botschaft steht in weißen Buchstaben auf schwarzem Transparent und hängt am Gartenzaun der Nachbarn: "5G tötet! Schützt unsere Kinder!" Nein, sagt Gerald und blickt vom Wohnzimmertisch durch das Fenster zum Nachbargrundstück hinüber. Er habe noch keine Gelegenheit gehabt, die Leute von nebenan kennenzulernen. Das Plakat habe ihn abgeschreckt.

Ein wenig ärgern wollte er sie trotzdem, deshalb hat er sein WLAN "5G Heilfrequenz" getauft. Vielleicht wäre ein kurzer Austausch ja doch interessant, sagt er, aber vermutlich bringe es wenig. Bei ihm war es ja früher nicht viel anders. Und man sei ja nicht für jeden Menschen auf der Welt verantwortlich.

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Gerald hat die langen Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden, die dunklen Augen hinter der Adidas-Brille blinzeln nur selten. Um ihn herum herrscht Chaos. Der Wohnzimmerboden ist mit Kinderspielzeug übersät. Das Baby, 14 Monate alt, schläft, das Babyphone bleibt an diesem Abend stumm.

Es ist nicht das erste Mal, dass Leute von der Presse an seinem Tisch sitzen. Gerald will seine Geschichte erzählen, er hofft, damit etwas wiedergutzumachen.

Denn Gerald war über viele Jahre ein Anhänger von Verschwörungstheorien. Irgendwann, da glaubte er alles. Die Erde würde schrumpfen, sei innen hohl. Und mit Wasserstoff gefüllt. In Wahrheit gebe es eine geheime Weltregierung, die die Geschicke der Menschheit lenken würde. Alle Politiker, alle CEOs – nur Marionetten der Mächtigen.

Fünf Jahre lang glaubte Gerald B. an Verschwörungstheorien. Heute will er auf Youtube die Argumente der Corona-Leugner zerpflücken.
Foto: Paul Gäbler

Crack für die Seele

Mit solchen Ansichten ist Gerald nicht alleine. Eine Umfrage des Market-Instituts aus dem Jahr 2020 ergab, dass ein knappes Drittel der österreichischen Bevölkerung davon überzeugt ist, im Kontext der Corona-Krise "werde nicht mit offenen Karten gespielt".

Corona sei ein Schwindel, bei dem verborgene Mächte ihre Finger im Spiel hätten, viele glauben, die Krankheit sei menschengemacht. In der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen ist der Zuspruch zu derlei verschwörungstheoretischen Inhalten am größten.

Auch Gerald war in diesem Alter, als er glaubte, der ganz großen Konspiration auf der Spur zu sein. Er betrachtete die ganze Welt als ein riesiges Problem, bis er sich schließlich fragte, ob nicht vielleicht er selbst das Problem war. "Ich habe gedacht, ich wäre superschlau, aber letztendlich war ich einfach nur sehr dumm", sagt Gerald. Wie kam es dazu?

Gerald kommt 1981 zur Welt, seine Eltern hatten zuvor schon Familien gegründet – der Nachzügler nimmt im Patchwork-System die Rolle des etwas nerdigen Sonderlings ein. Mit acht Jahren beginnt er, am 286er-PC seines älteren Bruders zu coden.

In der Schule tut er sich nicht leicht. Er kommt mit den anderen Jugendlichen nicht klar – und sie nicht mit ihm. Manchmal fragen ihn seine Mitschüler vor den Physikprüfungen nach den Lösungen, in dem Fach schreibt er immer eine Eins, auch ohne zu lernen. Freunde hat er wenige – und auch nicht unbedingt die besten, sagt er.

Einstiegsdroge

Einer gibt ihm eines Tages ein Buch mit: Zeit für die Wahrheit von Klaus Ewert wird zu Geralds Einstiegsdroge ins Reich der Verschwörungstheorien. Bei Amazon reichen die Rezensionen für das Werk von "Dieses Buch muss man gelesen haben!" bis zu "Haarsträubender Unsinn eines Möchtegern-Genies".

Gerald hat das Gefühl, dass ihm die Augen geöffnet werden. Alles, was er über die Welt zu wissen glaubte, wird pulverisiert. Die Menschheit existiere erst seit 1000 Jahren, nachdem die vorherige Kultur durch eine Planetenkollision zerstört worden war. Die Erde ist in Wahrheit hohl und im Kern eigentlich eiskalt; Einstein und Newton hätten sich stümperhaft verrechnet. Geralds Welt wird mit jeder Buchseite weiter auf den Kopf gestellt.

"Ich wurde süchtig", sagt er. Nach immer mehr, nach immer extremerem Wissen. Er verbringt viele Stunden im Netz, ein Beitrag aufwühlender als der nächste. Verschwörungstheorien, sagen Psychologen, seien wie Crack für die Seele. Gerald geht nicht mehr wählen und irgendwann nicht mal mehr zum Arzt. Politik, Medizin, Wissenschaft – in seinen Augen ein einziges großes Lügengebilde. Und nur er hat den Durchblick.

Die besonderen Besserwisser

Es ist der übliche Werdegang eines Verschwörungstheoretikers, so wie ihn die Wirtschaftswissenschafterin Katharina Nocun und die Psychologin Pia Lamberty in ihrem Buch Fake Facts beschreiben. Die Analyse der Autorinnen: "Für Menschen, die sich gerne einzigartig fühlen wollen und bewusst ,gegen den Strom schwimmen‘ möchten, sind solche Ideen besonders attraktiv."

Telekinese, die Übertragung von Gedanken, Lichtnahrung – all das hielt Gerald früher für real. Geblieben sind heute nur mehr die Tai-Chi-Übungen, die er in seinem Garten macht und mit denen er zu sich finden will.
Foto: Paul Gäbler

Fragt man Gerald heute, warum er damals fest überzeugt von der Richtigkeit teils abstruser Theorien gewesen sei, sagt er, er habe gerne etwas Besonderes sein wollen. Und nun wusste er Sachen, die andere nicht wussten.

Mit Anfang 20 – da ist er bereits völlig in der Welt der Verschwörungserzählungen gefangen – bekommt er über Kontakte einen Job als Systemadministrator in einer IT-Firma. Mit seinem vermeintlichen Geheimwissen hält er zunächst hinterm Berg. Hätten seine Arbeitskollegen geahnt, wie er die Welt damals sah, sagt Gerald, dann hätte er die Stelle vermutlich nie bekommen.

Weltbild im Wanken

Erst mit der Zeit offenbart er sein Weltbild. Ein Arbeitskollege ist es, der es erstmals ein wenig ins Wanken bringt. Nachdem Gerald seine Theorie zur Entstehung des Sonnensystems äußert, fragt der Kollege trocken: "Warum glaubst du das?" Darüber habe er lange nachdenken müssen.

Es sei schlimm mit ihm gewesen, sagt Thomas, der Mann von Geralds ältester Schwester. Bei Familienfeiern habe man inständig gehofft, dass er ruhig bleibt. Diskussionen waren eine Qual, egal welches Argument man brachte – Gerald wusste es immer besser. Einmal zum Beispiel hätten sie sich wegen eines einfachen Logikfehlers in die Haare gekriegt.

Da hatte Gerald behauptet, die internationale Raumstation ISS könne gar nicht echt sein, weil sie dem Außendruck nicht standhalten würde. Thomas blieb beharrlich: Es gebe Naturgesetze. Trotzdem habe er oft auch einfach keine Lust mehr auf die Debatten mit seinem schwurbelnden Schwager gehabt: "Gerald wollte nicht diskutieren, der wollte recht haben." Nachsatz: "Heute ist er der Schwager, den man sich immer gewünscht hat."

Die Ablösung

Von außen betrachtet, übersieht man schnell, wie schwierig es ist, sich aus einer Weltanschauung zu lösen, die Halt und Orientierung bietet. Wann das bei ihm passiert ist, kann Gerald nicht genau sagen. Es habe keine Initialzündung gegeben, es sei mehr eine Kette von Ereignissen gewesen. Der Kollege. Die Familie. Sie sagen ihm immer wieder, dass er sich verrannt hat.

Langsam verdichtet sich bei Gerald ein Gefühl: Womöglich haben die recht – und ich liege falsch. Er ist 29, als er den Kontakt zu einigen seiner wenigen Freunde abbricht. "Das Einzige, was uns zusammenhielt, war der Glaube an die große Verschwörung."

Es sei eine gute Entscheidung gewesen, sagt Gerald. Er sei für vieles dankbar. Für seine Familie, die ihn nie aufgegeben hat und auch keiner Diskussion mit ihm ausgewichen ist. Für seine Freundin, die er kurz nach seinem Ausstieg aus der Welt der Verschwörungen auf einer Party in Wien kennenlernte. Und jetzt für seinen kleinen Sohn. "Ich bin froh, dass ich den Ausstieg vor der Pandemie geschafft habe." Er hätte sich vermutlich weiter in abstruse Ideen reingesteigert. "Ich glaube nicht, dass meine Familie dann noch zu mir gehalten hätte."

Schnelle Radikalisierung

Seinen Nachnamen und Wohnort möchte Gerald nicht nennen, aus Sorge vor "Idioten aus dem Internet", die ihm nachstellen könnten. Denn Gerald sucht die Öffentlichkeit. Er will anderen helfen, ebenfalls aus dem Kaninchenbau der verschwörungstheoretischen Unterwelt zu finden.

Als "Ascendancer" stellt er sich deshalb bei Youtube der Diskussion und pflückt Argumente der Corona-Leugner in kurzen Clips auseinander. Inzwischen sei der einschlägige Content aber deutlich zurückgegangen – vor allem, weil Youtube immer mehr Kanäle der Corona-Leugner sperrt.

Die wandern deshalb auf andere Plattformen ab, wo sie sich ausschließlich an anderen Verschwörungstheoretikern messen lassen müssen. Weil nur der Extremste das Match um die Aufmerksamkeit gewinnt, radikalisieren sich die meisten noch schneller. Diese Entwicklung beunruhige ihn, sagt Gerald.

Er hofft, dass sein Beispiel Schule macht, als Lehrstück darüber, wie man mit Verschwörungsgläubigen umgehen sollte. "Das Wichtigste ist, den Menschen trotz seiner Ansichten zu respektieren. Nicht an die Decke zu gehen, beharrlich zu bleiben und auf den Fakten zu bestehen." Auch wenn das anstrengend sei. Und immer den Kontakt halten!

Die Hinwendung zu Verschwörungstheorien sei eine Sucht. Der Moment, in dem man etwas völlig Neues für sich entdeckt, eine neue Sicht auf Dinge entwickelt, der "Kick". Aber den könne man sich auch in der echten Welt holen. "Ich bin ein Erkenntnisgewinn-Junkie", sagt Gerald und lacht. Vielleicht müsste er sich doch einmal mit seinen Nachbarn unterhalten. (Paul Gäbler, 21.11.2021)