Irmgard Griss, ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und Ex-Neos-Politikerin, kritisiert in ihrem Gastkommentar das viel zu späte Handeln der Regierung und deren schielen auf Umfragen.

Es ist alles gesagt worden, aber nicht von allen. Dieser Spruch von Karl Valentin kommt einem in den Sinn, wenn man die Zeitungen aufschlägt, das Radio oder den Fernsehapparat aufdreht oder sich online informiert. Jedes denkbare Argument ist bereits gebracht worden. Leider führt das in vielen Fällen nicht zu einem offenen Austausch, zu einem Überprüfen des eigenen Standpunkts und zu einem Abwägen verschiedener Positionen. Im Gegenteil. Die Standpunkte verhärten sich, die Wortwahl wird schärfer, der Graben tiefer, der Befürworter und Gegner der Corona-Maßnahmen trennt.

Illustration: Fatih Aydogdu

Warum ist das so? Ein Grund ist, dass die Gefahren durch das Virus völlig verschieden eingeschätzt werden. Was die einen als potenziell lebensbedrohlich ansehen, ist für die anderen, so sie die Existenz des Virus nicht überhaupt leugnen, etwas, mit dem ein gesundes Immunsystem, unterstützt durch teilweise obskure Medikamente, ohne weiteres fertig wird. Berichte über schwere Covid-19-Erkrankungen, über überfüllte Spitäler, über Long Covid, über Todesfälle durch Covid-19 weisen sie als falsch oder zumindest als übertrieben zurück. Eine Diskussion oder gar ein Dialog ist bei derart unterschiedlichen Sachverhaltsannahmen von vornherein extrem schwierig.

Und dennoch müssen wir einen Weg finden, um aus dieser Situation herauszukommen. Es kann und darf nicht sein, dass das Virus nicht nur die Gesundheit und das Leben vieler bedroht, sondern auch die Grundlagen unseres Zusammenlebens erschüttert: die liberale Demokratie, den Rechtsstaat. Sie beruhen auf dem Grundkonsens, dass sich die Bürgerinnen und Bürger einer Rechtsordnung unterwerfen, die auf demokratischem Weg zustande gekommen ist. Einer Rechtsordnung, die ihnen Rechte einräumt und Pflichten auferlegt. Ganz wesentliche Rechte sind die persönliche Freiheit, der Schutz des Privat- und Familienlebens. Keines dieser Rechte gilt aber absolut. Sie können in besonderen Ausnahmefällen eingeschränkt werden. Und zwar dann, wenn dies in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

"Der jetzt verkündete bundesweite vierte (!) Lockdown und die Impfpflicht ab Februar sind durch die bisherigen Versäumnisse notwendig geworden."

Unsere Rechtsordnung verbindet damit Grundrechte und Grundfreiheiten mit Verantwortung. Verantwortung konkretisiert sich durch Pflichten. Wenn ich meine Rechte ausübe und Freiheiten lebe, dann muss ich dabei auf die Rechte und Freiheiten anderer Rücksicht nehmen. Das heißt in einer Pandemie, Maßnahmen zu befolgen, die sowohl die Gefahr einer eigenen schweren Erkrankung als auch die Gefahr schwerer Erkrankungen anderer eindämmen. Die Maßnahmen zu verhängen ist Verantwortung der Politik. Sie muss die Lebensverhältnisse so gestalten, dass wir unsere Rechte ausüben und unsere Freiheiten leben können.

Bisher ist die Politik dieser Verantwortung nur sehr unzureichend gerecht geworden. Der jetzt verkündete bundesweite vierte (!) Lockdown und die Impfpflicht ab Februar sind durch die bisherigen Versäumnisse notwendig geworden. Grillparzers Charakteristik des Österreichers trifft nach wie vor zu: "Auf halben Wegen und zu halber Tat. Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben". Das beginnt bei der Kommunikation und endet bei den konkreten Maßnahmen. Kommuniziert wird das, von dem man glaubt, dass es die Menschen hören wollen. Und angeordnet wird das, das die Leute bereit sind einzuhalten. Versäumnisse werden mit der Behauptung schöngeredet, wären die Einschränkungen früher und damit rechtzeitig (!) verfügt worden, wären sie nicht eingehalten worden. Ein klassischer Fall einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.

Vorschnell als gemeistert erklärt

Die Pandemie legt damit ein Grundproblem unserer Politik offen. Politische Entscheidungen werden häufig nicht nach sachlichen Notwendigkeiten getroffen. Abgestellt wird darauf, was laut Umfragen die meiste Zustimmung erhält. Unpopuläre Entscheidungen werden gescheut. Fehler werden nicht eingestanden. Auch an offensichtlich Unrichtigem wird festgehalten, um das Gesicht zu wahren. Die Pandemie war ja vorschnell als gemeistert und für beendet erklärt worden. Wie wäre es sonst möglich, dass am Höhepunkt einer vierten Welle Maßnahmen nicht sofort getroffen werden, die Mediziner dringend empfehlen?

Auch das Thema Impfpflicht fällt in diese Kategorie. Es ist nicht populär, auch weil ganz falsche Vorstellungen damit verbunden werden. Hervorgerufen werden sie durch falsche Behauptungen über die Impfung, sie sei nicht wirksam, dafür aber gefährlich. Kein Wunder, dass viele verunsichert sind, sich fürchten und geradezu Angststörungen entwickeln. Natürlich ist es nicht leicht, dem entgegenzuwirken. Aber eine gezielte Informationspolitik der Regierung mit in den jeweiligen Milieus anerkannten Personen hätte dazu beigetragen – und könnte auch jetzt dazu beitragen –, Impfskeptiker zu bewegen, ihre Einstellung zu überdenken. Nicht alle sind überzeugte Corona-Leugner.

Psychische Belastung

Wenn das aber alles nicht reicht, dann kann das Ergebnis nicht sein, die menschlichen Tragödien, die psychische Belastung, vor allem auch die der Kinder, die Vernichtung wirtschaftlicher Existenzen, die gigantische Belastung des Staatshaushalts und damit auch künftiger Generationen mehr oder weniger als schicksalhaft hinzunehmen.

Dann muss die Politik Farbe bekennen und eine Impfpflicht anordnen, was sie jetzt endlich tun will. Denn es ist millionen-, ja milliardenfach belegt, dass die Impfung wirkt und nicht gefährlich ist. Belegt ist auch, dass wir nur durch Immunisierung unser Leben trotz Virus so weiterführen können, wie wir es bisher gelebt haben und wie es unseren Bedürfnissen als soziale Wesen entspricht. Dazu braucht es mutige und verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker, die ihr Verhalten am Gemeinwohl orientieren – und nicht an der nächsten Umfrage. (Irmgard Griss, 20.11.2021)