Runterkommen, zur Ruhe finden: Im neuesten immersiven Theaterprojekt der österreichisch-dänischen Kulttruppe Signa treten Besucher einen Kuraufenthalt an.

Foto: Erich Goldmann

Soll ich vielleicht doch ein wenig blinzeln, um zu sehen, was da um mich herum passiert, oder mich ganz auf alle Anordnungen einlassen und zunächst die Augen geschlossen halten? Jedem Teilnehmer an der neuen Theaterinstallation des österreichisch-dänischen Theaterkollektivs Signa wird zunächst in einem Ruheraum des Paketpostamts Hamburg-Altona ein Bett zugewiesen.

Hatte man bei den vorhergehenden Signa-Produktionen eine Nacht mit Obdachlosen (Das halbe Leid) verbracht, an den Ritualen einer Sekte (Das Heuvolk) teilgenommen oder ist bei den Wiener Festwochen 2016 Menschen begegnet, die sich als Hunde empfinden (Us Dogs), wird nun im Projekt Die Ruhe ein sechsstündiger Kuraufenthalt gegen Erschöpfung, Verwirrung und Traumata versprochen. Diese Kur bieten – so wird den Teilnehmern erklärt – Patienten und Therapeuten einer aufgelassenen Klinik an, die ein gemeinsames traumatisches Erlebnis in einer Gewitternacht verbindet. Das Kollektiv fühle sich ganz dem Wald verbunden, ja es wolle in seiner "Sucht nach Wald" selbst Wald, Wald-Erde werden. Im Wald würden auch wir "die Ruhe" finden.

Instabile Betreuerin

Zunächst müssen alle Teilnehmer einen hellgrauen Overall mit Kapuze anziehen und sind auf diese Weise ähnlich wie das Therapiekollektiv kostümiert. Geführt wird man, aufgeteilt in Fünfergruppen, von einer Betreuerin. Delia, die den Autor dieses Textes führt, ist sehr einfühlsam, aber doch auch nicht ganz stabil: Manchmal zeigt sie traurig ein Medaillon mit dem Foto ihrer im Trubel der Stadt lebenden Zwillingsschwester. Ist es am Ende sie selbst?

Angeboten werden unterschiedliche therapeutische Aufstellungen: In einem Saal mit grauen Puppen muss man sein anderes Ich auswählen oder in Gummistiefeln in einem nassen Raum "Verwandlung" schreiend Gummiaale an die Wand werfen. Man sieht große tote Vögel, kostet von schwarzer Erde oder lässt Würmer über die Hand gleiten.

Der Wald wird als Ort der Romantik beschworen, aber auch des Horrorthrillers, unterstützt vor allem durch den ständig wabernden Hintergrundsound (Arthur Köstler). Bisweilen denkt man an Gruselszenen in Lars von Triers Film Antichrist. In einen der Räume ist nämlich ein gespenstischer dunkler Wald (Bühne: Signa Köstler und Lorenz Vetter) gebaut, in den Sandra (Signa Köstler) sich zurückgezogen hat.

Oder ist sie Allerleirauh, jene Prinzessin aus Grimms Märchen, die sich den inzestuösen Wünschen ihres Vaters entzieht und im Wald in einem hohlen Baum versteckt?

Zärtliche Melancholie

Die neue Produktion der Kultstatus genießenden Theatertruppe Signa streift viele aktuelle Themen wie Isolierung, Zerstörung der Natur, Krankheit und Tod und ist voll von vergleichsweise fast zärtlicher Melancholie, etwa in der großen, nur spärlich besuchten Mensa, wo man zwei Sängerinnen in Abendkleidern zuhören oder vielleicht doch auch mit einer Patientin einen Wodka teilen kann.

Mit ihren immersiven Theaterprojekten gehen Signa immer wieder an die Grenzen dessen, was Theater sein kann. Und manchmal auch darüber hinaus. An ihrem neuen Projekt Die Ruhe berührt, wie nahe man sich auch oder gerade in Zeiten des Abstandhaltens kommen kann. Während sich die Betreuerinnen beim Abschied in Walderde eingraben, stehen die Teilnehmergruppen noch lange nach Mitternacht vor dem Paketpostamt und tauschen sich aus. Einige von ihnen, stellt sich heraus, reisen Signa immer wieder nach. Man kann nicht nur Wald-süchtig, sondern offensichtlich auch Signa-süchtig werden.
(Bernhard Doppler aus Hamburg, 22.11.2021)