Nach ein paar Fingerübungen mit Elektroautos auf der Basis von Verbrennern bringt nun auch Mercedes ein Auto, das von Grund auf für Elektroantrieb konzipiert wurde. Und man steigt auch gleich ganz oben ein, auf Höhe der prestigeträchtigen S-Klasse. Darum heißt das Auto auch EQS.

Zwang zur Skalierung, wie man so sagt, herrscht auch hier: Um schnell in die vorausberechneten Stückzahlregionen vorzudringen, ist die elektrische S-Klasse ein wenig universeller angelegt als die verbrennerische. Es gibt keine Kurz- und Langversion, nur eine, die mit 5216 mm Länge eigentlich schon die Langversion ist. Eine Heckklappe steigert die Nutzbarkeit und unterstützt dabei auch noch die fließenden Linien. Umklappbare Rücksitze findet man darunter. Auch Luxus darf jetzt praktisch sein. Sehr bald kommt auch eine etwas kleinere E-Klasse auf gleicher Basis, der EQE.

Wenig Aufregung im Straßenbild:
Wer sich so konsequent in den Wind duckt, wird leicht übersehen.
Foto: Andreas Riedmann

Spannend ist dies natürlich, weil Mercedes bisher gewohnt war, in der Rolle des Technologieführers aufzutreten, und diesen Anspruch auch nicht aufgeben will. Aber was heißt das schon, Technologieführerschaft? Ein Auto besteht ja aus mehr als nur einem geschmeidigen Antrieb, einem gleichermaßen komfortablen wie sicheren Fahrwerk und Türen, die satt schließen. Heute geht es um mehr. Die Smartphonisierung des Automobils ist weiter fortgeschritten, als man dies an den derzeit käuflichen Fahrzeugen überhaupt erkennen kann. Die technische Revolution läuft längst im Hintergrund bei allen Konzernen, die Schnittstelle zum Menschen ist meist ein Bildschirm mit ominösem Inhalt und noch ominöserer Bedienung. Aber was steckt dahinter?

Während andere ziemlich ausgiebig von Zukunft flunkern und wir das halbwegs entspannt mitverfolgen, muss Mercedes jetzt zeigen, wie das wirklich gehen soll mit der Digitalisierung, die uns nicht nur vor Rätsel stellt, sondern die wir gern als zukunftsweisend annehmen. Das erwarten wir.

Aber sobald der EQS stehen bleibt,
scharen sich die Interessierten um ihn.
Foto: Andreas Riedmann

Während wir früher mit einem Auto zuerst einmal losgefahren sind und sich der Rest an Eindrücken irgendwie ergeben hat, beginnen wir heute beim Kommunizieren, das heißt beim Bildschirm. Eine Diskussion über sein Format und seine Größe erübrigt sich unter dem Titel Hyperscreen.

In Wirklichkeit sind es drei Monitore unter einer gemeinsamen Abdeckung: Das Display vor dem Lenkrad, das auch die Bedienfunktionen dafür bereithält, ein Touchscreen in der Mitte und noch ein Touchdisplay vor dem Beifahrersitz. Aber schon hier ist einzuhaken, dass nicht alles in dieser Üppigkeit serienmäßig ist. Denn in der Heckantriebsversion besteht die Mensch-Maschine-Schnittstelle aus dem üblichen Fahrerdisplay und einem Hochformat-Touchscreen in der Mitte. Für den Hyperscreen gelten dort 9012 Euro Aufpreis.

Hyperscreen also: Wir sind baff, wie toll man alles ablesen kann und wie sicher zudem die Berührungsbefehle vonstattengehen. Zwar spiegelt die Oberfläche noch immer wie der Teufel, aber nur solange nichts leuchtet. Geht das OLED-Licht an, sind die Spiegelungen weg. Alles ist aus jedem Winkel bei jeglichem Umgebungslicht gestochen scharf ablesbar, unverzerrt trotz sanfter Krümmung der gläsernen Oberfläche. Man hat sich hier weit über das erwartbare Maß erhoben und eine Markierung gesetzt.

Volle Breite Abenteuer

Mercedes hat sich in voller Breite dem Abenteuer ausgesetzt. Der frühere Anspruch an Perfektion oder Souveränität wird nicht mehr erfüllt, aber der war eh nicht ganz so sympathisch. Da passt es ganz gut hinein, dass man sogar stärker auf unsere Emotionen eingeht. Jenseits technokratischer Fragestellungen und digitaler Wohlfühltricks gibt es auch eine psychologische Komponente, die sehr analog aufgebaut ist. Wenn du einsteigst und dich nach hinten lehnst, taucht dein Kopf in ein weiches Polsterl. Das ist so arg angenehm, als ob das Auto sagen würde, komm her, ich mag dich.

Hyperscreen nennt Mercedes die drei Monitore unter einer Abdeckung.
Foto: Andreas Riedmann

Das Wohlfühlthema wird auch noch mit kostspieligen elektronischen Mitteln über die Soundanlage weiter getrieben, wenn man sich am Konfigurator hemmungslos bedient. Drei Energizing-Nature-Programme – "Waldlichtung", "Meeresrauschen" und "Sommerregen" – sollen für eine angenehme Grundstimmung sorgen, Rückenrubbeln inklusive. Klingt alles ein bisschen nach Esoterik und Räucherstäbchen, müffelt aber nicht – im Gegenteil, bei Bedarf wird auch noch über die Klimaanlage Duftwasser versprüht, jetzt neu in der Note Feige-Leinen. Dabei kann man sich auch gegen die echte Umwelt gut abschotten, die manchmal ja eine böse ist. Im Aufpreisposten Energizing Air Control (564 Euro) findet sich ein Partikelfilter, der selbstverständlich zertifiziert auch Viren und Bakterien zurückhält.

Damit sich das Auto handlich anfühlt, ist Vierradlenkung serienmäßig. So ist der EQS sportlicher, dynamischer angelegt als die S-Klasse und wohl auch eher zum Selberfahren gedacht. Man hat zwar weiträumig Platz in der zweiten Reihe, sitzt aber trotzdem nie ganz entspannt, weil die Bodenplatte aufgrund der integrierten Batteriepakete dick ist und die Knie in die Höhe ragen. Und Obacht beim Einsteigen hinten, da droht die abfallende Dachlinie!

Zahlengequirl

Gegen mehr als 1000 PS (Tesla Model 3 Plaid) machen sich 524 PS direkt bescheiden aus. Dazu ist nur so viel zu sagen: Mercedes schafft es auch, mit 524 PS ein enorm dynamisches Fahrgefühl zu entfalten, und hat auch noch eine stärkere Version angekündigt. Der Rest ist Zahlengequirl für ein Hatzerl auf einem Salzsee oder das Autoquartett. Im wahren Leben geht es aber um Präzision beim Lenken, um eine Federung ohne Fehl und Tadel und die überzeugende Funktion der Assistenzsysteme. In der Summe der Eigenschaften ist der EQS überzeugend, zumal auch viele neue Funktionen gut eingebunden sind.

Foto: Andreas Riedmann

Die Federung ist gleichermaßen komfortabel wie hochpräzise in der Radführung. Das niedrige Auto in Kombination mit tiefem Schwerpunkt erlaubt enorme Kurvengeschwindigkeiten. Man kann praktisch kerzengrad ums Eck fahren (da hilft auch die Hinterradlenkung mit). Die Steuerung des Antriebs verläuft im Millisekundentakt von vorne nach hinten und umgekehrt.

Die Ladepausen sind überschaubar. Als höchste Ladeleistung werden 200 kW angegeben. Das ist schon ein sehr hoher Wert für ein 400-Volt-System, und er wird auch bei weitem nicht erreicht. Praktische Erfahrung an der Ionity-Ladesäule: Höchstwert 173 kW bei Ladezustand 45 Prozent. Danach ging es schon wieder bergab. Im Schnitt kamen wir auf rund 2 kWh pro Minute. Das ergibt gute Ladezeiten von rund einer Dreiviertelstunde auf der Langstrecke, bei Etappen zwischen 400 km und 500 km.

Grafik: Der Standard

Stichwort Allradlenkung: Serienmäßig sind vier Grad Einschlagwinkel der Hinterräder, gegen Aufpreis bekommt man auch zehn Grad. Das Rückwärtseinparken ist mit Allradlenkung besonders trickreich, weil damit das Heck ein interessantes Eigenleben entwickelt. Falls man beim Kauf auf das Aufrüsten vergisst, kann man sich diese Funktion auch nachträglich Over The Air (OTA) schicken lassen. Auch das ist eine neue Option: Funktionen sind schon eingebaut und werden vom Hersteller nach Bezahlung aktiviert – oder solange man bezahlt (wenn nicht, wird wieder abgeschaltet). Zum Beispiel ein zusätzliches Fahrgeräusch namens Roaring Pulse, der Name sagt eh schon alles.

Der EQS duckt sich konsequent in den Wind. Wir lesen Rekordwerte, etwa mit Cw 0,20 den weltbesten Luftwiderstandsbeiwert für ein Serienauto (Tesla Model S 0,208, Porsche Taycan 0,22). Trotzdem findet der EQS wenig Beachtung im Vorbeifahren. Wenn dem Wind möglichst wenig entgegengesetzt werden soll, bleibt auch für unser Auge nicht mehr viel, an dem es hängen bleiben könnte.

Dieses Automobil von Mercedes ist trotzdem nicht als Experimentierfeld zu begreifen, sondern vielmehr als Aussichtsplattform auf Dinge, die möglicherweise ganz schnell auch in weniger kostspieligen Fahrzeugkategorien auf uns zukommen werden. Hier auch noch vernetzt und zugespitzt auf die Möglichkeiten des Elektroantriebs. Ist logisch, aber nicht selbstverständlich. (Rudolf Skarics, 24.11.2021)