Quer durch die Europäische Union, in unserem gemeinsamen Europa also, nimmt die jüngste Corona-Infektionswelle gleich doppelt gefährliche Dimensionen an – medizinisch und politisch. Alarmierend sind nicht nur die eskalierenden Zahlen von Patienten in Spitälern, auf Intensivstationen – sondern auch die der Toten. Die EU driftet als Solidargemeinschaft auseinander.

Beispiel Rumänien. Dort starben in den vergangenen zwei Wochen 4.200 Menschen an Covid-19, ohne dass das in anderen Teilen der Union oder bei der EU-Kommission in Brüssel auf besondere Aufmerksamkeit stieß. In Deutschland debattiert man derweil lieber darüber, ob die Bürger den Impfstoff Moderna, den "Rolls Royce" der Wirkstoffe, akzeptieren müssen, weil der "Mercedes" von Biontech/Pfizer knapp wurde.

Die Entwicklung von Impfstoff gegen Covid und der grüne Pass sind positive Beispiele der Kooperation der EU-Staaten.
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Oder: Die Regierung in Wien hat nach wochenlanger Ignoranz der Gefahr nicht nur einen harten Lockdown für alle verhängt, sondern gleich eine Impfpflicht für alle angekündigt. Die gibt es nirgendwo in Europa. Impfpflicht im Gesundheitswesen hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bereits Mitte Juli angeordnet, was in Wien kaum jemand interessierte, weder Regierung noch Opposition, weil unpopulär.

Umso drastischer wirkt die Wende, die Partner blicken nun neugierig nach Mitteleuropa. Was droht da?

In Deutschland beginnt die Impfpflichtdebatte gerade, obwohl gerade das Ende der "pandemischen Notlage" beschlossen wurde. Wäre Letzteres in Spanien oder Portugal geschehen, wäre es klar. Diesen beiden Ländern ist es längst gelungen, mehr als 85 Prozent der Bevölkerung zu impfen, die Infektionszahlen sind im Keller.

Grenzüberschreitende Wirkung

Das alles zeigt: Anstatt dass die EU zusammenrückt, dass die Staaten bei der Bekämpfung der Pandemie eng kooperieren, Best Practice betreiben, Maßnahmen abstimmen, driften sie eher noch auseinander. Die Regierungen (und innerhalb der Staaten die Parteien) werkeln vielfach allein vor sich hin, jeder nur für sich, auf den eigenen Vorteil bedacht. Genau das ist ein schwerer Fehler: Das Wesen einer Pandemie ist ihre grenzüberschreitende Wirkung, genau so muss man sie auch bekämpfen.

In einer EU, die in Sonntagsreden die offenen Grenzen als zentrale Errungenschaft feiert, die sich als oberste Bewahrerin von Freiheit, Sicherheit und Recht der Bürger zu deren Schutz sieht, ist das eine vergebene Chance. Bis zum Sommer wurde gezeigt, dass Länder erfolgreich kooperieren können, wenn die Not dazu zwingt: Die Entwicklung von Impfstoff gegen Corona, der Wiederaufbaufonds, der grüne Pass sind positive Beispiele.

Aber seither sind Solidarität und verstärkte Kooperation wie abgerissen. Die Folge: Neben der Viruswelle läuft eine beunruhigende Welle der politischen Radikalisierung, eine Spaltung der Gesellschaften, die immer aggressivere wechselseitige Zuweisung von Schuld an der Misere in der Bevölkerung. In den Niederlanden, aber auch in der belgischen Hauptstadt Brüssel gibt es seit Tagen Straßenschlachten von Gegnern der Anti-Corona-Maßnahmen, brennen Polizeiautos. Der Streit darüber, ob Masken gegen das Virus schützen oder nicht, ob man einen oder zwei Meter Abstand halten soll, das war gestern. Es klingt wie nationaler Kinderkram von 2020. Heute ginge es längst darum, maximal von anderen zu lernen, zu überzeugen, nicht nur im eigenen Land, sondern vernetzt. (Thomas Mayer, 23.11.2021)