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Beruflich ein gutes Team, privat ging es bei Lotte Lenya und Kurt Weill aber turbulent zu: Ihr Geliebter verzockte sein Geld.

Foto: AP Photo/Robert Kradin

Florian Illies ist ein Meister bis zum Vibrieren verdichteter Episoden. So locker und zugleich bedeutungsschwer tupfte er vor sieben Jahren in dem Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts Begebenheiten und Persönlichkeiten aus Kunst, Politik und Industrie nebeneinander auf 300 Seiten, dass ein Panorama jenes Jahres vor der Katastrophe entstand, wie man es sich fiebriger und flirrender nicht ausmalen kann. Die gleiche Vorgehensweise verfolgt der Autor in seinem neuen Wurf Liebe in Zeiten des Hasses. Wieder heftet Illies sich an die Fersen prominenter Figuren, um in deren Biografie eine Epoche zu spiegeln. Diesmal die Jahre 1929 bis 1939, die Protagonisten sind Liebespaare.

Wir begegnen Marlene Dietrich, deren Kindermädchen im Ehebett neben ihrem Mann schläft, während sie darüber "erleichtert" um die Häuser zieht. Henry Miller, dessen Frau in New York derweil ihre Geliebte in die gemeinsame Wohnung und das Ehebett einziehen hat lassen, hadert damit indes und flüchtet nach Paris. Alma Mahler hat erst vor kurzem den Namen "Werfel" angeheiratet und denkt sich jetzt schon: "Soll er seinen Dreck allein machen." Allein tut jedenfalls Muttersöhnchen Erich Kästner wenig – er zieht in eine neue Wohnung, die ihm seine Freundin suchen und die Mutter mit Pölstern ausstatten darf.

Ja, große Geister werden in dieser schonungslos offengelegten Privatheit zu oft mickrigen Menschen.

"Ihre Nymphomanie hatte elitäre Züge"

Und Mascha Kaléko? Berlin wird allmählich süchtig nach ihren Gedichten, noch kehrt sie aber nach langen Abenden in ihrem Lieblingscafé zum im Bett dösenden Mann heim und beruhigt ihn mit kleinen Gedichten: "Die anderen sind das weite Meer. Du aber bist der Hafen. So glaube mir: kannst ruhig schlafen, ich steure immer wieder her."

Das Namedropping ließe sich noch lange fortsetzen: Pablo Picasso und seine Muse Marie-Thérèse Walter, sämtliche heimlich und offen homosexuellen Mitglieder der Familie Mann, das Dreieck aus Lotte Lenya, Kurt Weill und ihrem Geliebten, Josephine Baker, die unglücklichen Fitzgeralds ... Leni Riefenstahl wird erst später für Hitler drehen, derweil hat sie Affären mit anderen mächtigen Männern: "Ihre Nymphomanie hatte elitäre Züge."

Der Band könnte genauso gut 1000 Seiten haben, hätte Illies sein Ensemble (neun zweispaltig bedruckte Seiten im Register!) nicht doch irgendwann beschränkt. Er folgt der Chronologie, doch sonst keiner Dramaturgie. Illies beschreibt im Plauderton und kommentiert mit Witz, was seine Figuren fühlen und denken und spickt das mit markigen Zitaten, bis es sich liest, als wäre er in Berlin und Paris, an der Côte d’Azur, in den Alpen und den USA dabei gewesen. 18 Seiten mit Quellenangaben zu Briefen, Biografien und Tagebüchern legen Zeugnis von seiner Recherche ab. Über Gustaf Gründgens Faible für teure Autos (rot!) und Kleider (Knize!) weiß Illies so viel, weil der Mime Rechnungen nicht immer bezahlte und sie oft auch ans Gericht gingen.

Sex und Kulturgeschichte

Man fühlt sich wie in einer Soap voller Sex und Tratsch und wird zugleich staunender Zeuge einer sehr kundigen Kulturgeschichte des auf den Untergang zutaumelnden Kontinents. Der Nationalsozialismus grundiert das Geschehen ab der Hälfte, die Stimmung schlägt von ausgelassen zu angespannt zu verzweifelt um. Die Akteure fliehen in Nachtzügen und auf Booten, auf Schiffen und zu Fuß ins Exil. Aber auch dort schlafen die Triebe nicht (Bert Brecht) und versucht man, der eigenen Frau aus dem Weg zu gehen (Hermann Hesse ließ sogar das gemeinsame Haus getrennt anlegen).

Die einzig funktionierende Beziehung der 400 Seiten hat wohl Vladimir Nabokov. Frauen stehen ihren Männern in Affären und offenen Ehen nicht nach, wiewohl nicht alle: Ernst Jüngers Frau muss den Gatten "Gebieter" nennen und tut das auch.

Diese Fülle! Wäre es ein Roman, man fände ihn übertrieben. Illies gelingt im besten Sinn eine Disneylandisierung der Historie zum Erlebnis. Das Erfolgsrezept geht erneut auf. (Michael Wurmitzer, 24.11.2021)