Beim Voguing geht es neben dem individuellen Ausdruck und Anspielungen auf die Tradition des Tanzstils auch um Gemeinschaft.
Foto: Stephan Polzer

Ob fließende Armbewegungen, dramatische Bodenchoreografien oder lässige Posen aus dem Repertoire eines professionellen Models: Beim Voguing steht das im Vordergrund, was man mit Persönlichkeit und Körper ausdrücken möchte – vor allem, wenn man nicht dem Durchschnitt entspricht.

Die Tanzform entstand in den 1980er-Jahren in Harlem, New York, wo sich Teile der Gay- und Trans-Communities auf sogenannten "Balls" trafen. Hier fanden vor allem jene ein Zuhause, die nicht zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehörten, unter prekären Bedingungen lebten und von ihren leiblichen Familien verstoßen wurden. Die neu geformten Familien bezeichnet man als "Houses".

In dieser sozialen und künstlerischen Tradition steht auch die Wiener Gruppe Kiki House of Dive. Sind die Mitglieder rund um die junge "Hausmutter" Karin Cheng gemeinsam auf der Bühne, so tanzen sie phasenweise synchron und geben einander dann wieder Raum, um einzeln im Rampenlicht zu stehen. Das zeigten sie kürzlich bei ihrem Auftritt an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). Am Forschungszentrum für Musik und Minderheiten (MMRC) lag beim diesjährigen Hauptvortrag der Fokus auf LGBTQ+-Identitäten in der Musik. Der Ethnomusikologe Thomas Hilder von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie in Trondheim sprach über sein Forschungsprojekt zu queeren Chören in Europa, wobei sich immer wieder Schnittmengen zu verwandten Gruppen – etwa queeren Orchestern oder eben Houses in der Voguing-Szene – zeigten.

Das in den 1980er-Jahren entstandene Voguing wird in der heute weitergeführten Tradition der Houses und Balls mit neuen Elementen versehen.
Foto: Stephan Polzer

In anderen Stimmlagen

"Musik war in gewisser Weise immer schon eine Sphäre, in der Andersartige und Außenseiter ein Zuhause fanden", sagt Thomas Hilder. Andererseits sind Chöre eher traditionell konnotiert. So ist es besonders interessant, dass sich LGBTQ+-Chöre – nicht immer unter dieser modernen Bezeichnung – formierten.

Ihre Geschichte beginnt 1975 mit dem Anna Crusis Women’s Choir aus Philadelphia (USA). In Europa zählt die gemischtgeschlechtliche Londoner Gruppe The Pink Singers, die 1983 gegründet wurde, zu den ältesten queeren Chören. Einige Ensembles sind näher an der klassischen Chortradition. Andere setzen sich stärker über Standards hinweg, etwa über die Stimmlagenaufteilung in Bass, Tenor, Alt und Sopran: An ihre Stelle treten geschlechtsunabhängige Unterteilungen, die auch Mitgliedern entgegenkommen, die nichtbinär oder trans sind.

Aktivismus und Therapie

Gemein ist ihnen aber, dass sie einen Raum darstellen, in dem die heteronormative Perspektive Pause hat und sich Mitglieder aus der LGBTQ+-Community nicht in der Minderheit fühlen. Tritt eine Gruppe auf, so hat das auch ein aktivistisches Element: "Wenn sich Minderheiten in der Öffentlichkeit Raum verschaffen, verändern sie die größere politische Diskussion und leisten dabei mehr als nur ein bisschen Therapiearbeit", sagt Hilder, der selbst vier Jahre lang organisatorischer Leiter eines queeren Chors in Trondheim war.

Ethnomusikologe Thomas Hilder.
Foto: Stephan Polzer

Der therapeutische Aspekt ist jedoch ebenfalls nicht zu vernachlässigen, wie auch die Lockdowns im Zuge der Covid-19-Bewältigung zeigen. Das gilt vor allem für jene Personen, die etwa im familiären Umfeld wenig Verständnis für ihre geschlechtliche oder sexuelle Identität erfahren. Die Entstehungsgeschichte älterer LGBTQ+-Chöre ist zudem oft mit der HIV-/Aids-Epidemie verknüpft, die die Community besonders hart traf: Der London Gay Men’s Chorus begann als Fundraiser für eine Aidsstiftung.

Weil sie nicht auftreten konnten, filmten und schnitten The Pink Singers wie andere Musikgruppen in der Covid-19-Pandemie ihre ersten Videoauftritte. Nicht nur der Songtext zeugt von Verlust und Gemeinschaft.
The Pink Singers

"Viele schwule Chöre in Nordamerika und Europa schufen in dieser Krise einen Raum, der für die Gemeinschaft sicher war", sagt Hilder, der als Brite selbst die Folgen homophober Politik miterlebte. Von 1988 bis 2002 war dort die Thematisierung von Homosexualität in Schulen verboten.

Mangelhafte Aufklärung

Um Information und Schutz vor der HIV-Infektion musste man sich selbst kümmern. Eine Aufklärungsarbeit, der sich der Forscher noch heute annimmt: "Ich bin entsetzt, wenn ich herausfinde, dass die Studierenden sehr mangelhafte Sexualerziehung und Bildung zum Thema HIV und Aids hatten. Das gilt nicht nur in Norwegen, und ich finde es bizarr, dass ich das als Musikwissenschafter mit ihnen besprechen muss."

Auch queere Geschichte wird kaum unterrichtet. Serien wie "It’s a Sin" und "Pose" bewirken, dass auch Jüngere mehr über die einschneidende Aidskrise und Meilensteine queerer Kultur, zu denen die Entstehung der New Yorker Ballroom-Szene gehört, erfahren.

Zudem lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, der über die Stonewall-Proteste von 1969 hinausgeht: In Deutschland zählt hier der Sexualwissenschafter Magnus Hirschfeld zu den wichtigsten Persönlichkeiten. Er erarbeitete 81 Grundtypen der Geschlechtsausprägung und versuchte beispielsweise durch die Mitgestaltung des Films "Anders als die Andern" (1919), Homosexualität zu enttabuisieren. Ihm wurde die wohl erste queere Hymne, "Das Lila Lied" (1920), gewidmet, das vor allem in Berliner Lesbenclubs gesungen wurde.

"Dass grade die Kategorie / vor dem Gesetz verbannt ist, / die im Gefühl bei Lust und Spiel / und in der Art verwandt ist?" Die Hymne "Das Lila Lied" aus dem Jahr 1920.
Ute Lemper - Topic

Regenbogen-Repertoire

Die Kabaretts der 1920er-Jahre inspirieren noch heute Dragshows und andere tänzerische wie musikalische Performances im Regenbogenspektrum. Dabei spielen Choreografien, Kleidung und Kostüme wichtige Rollen: "Sie können eine ironische Distanz zu einem gesungenen Liedtext unterstreichen", sagt Hilder. Auch auf textlicher Ebene werden Songs verqueert, etwa durch die Abänderung der Pronomen im Vergleich zum Original.

In Sachen Repertoire sind die Musikgruppen unterschiedlich aufgestellt, auch wenn die Affinität zu Ikonen der LGBTQ+-Community, Musicals und auch zu Beiträgen des Eurovision Song Contest naheliegt. Hinzu kommen regionale Schwerpunkte. Im Rahmen des Various-Voices-Festivals, bei dem zuletzt mehr als 100 queere Chöre aus Europa auftraten, präsentierte die Gruppe Qwerty Queer aus Odessa unter anderem ukrainische und russische Lieder. Der italienische LGBTQ+-Chorverband Cromatica verweist mit der Performance des Arbeiterinnenlieds "Bella ciao" (1906) auf den marxistischen Aktivismus, der auch die Schwulenbewegung in den 70er-Jahren beeinflusste.

Im Musikland Österreich ist die Szene aktuell vergleichsweise klein. Es gibt etwa an der Uni Wien den Chor Männersache, in Graz sucht der Regenbogenchor Stimmen. Daneben finden freilich weitere Gemeinschaftsprojekte und Veranstaltungen statt, nicht zuletzt in den Drag- und Voguing-Szenen, die auch abseits der Pride-Events im Juni florieren. (Julia Sica, 24.11.2021)