Bulgarische Ärzte versorgen den Leichnam eines CoV-Opfers in Sofia. Bulgarien hat aktuell weltweit die höchste Zahl an CoV-Toten im Vergleich zur Bevölkerungsgröße. In diesem Land sind 0,4 Prozent der Menschen wegen Covid-19 gestorben.

AFP / NIKOLAY DOYCHINOV

Seit Wochen ist Europa wieder das Epizentrum der Pandemie, und Österreich ist mittendrin: Bei der gemittelten Sieben-Tage-Inzidenz der gemeldeten Infektionen pro Million Einwohner sind wir laut Newsnodes aktuell globaler Spitzenreiter, was freilich zum Teil auch unserem rigorosen Testen geschuldet ist. (Nur Dänemark weist noch bessere Zahlen auf.) Hinter Österreich folgten neun weitere europäische Länder (linke Tabelle):

Grafik: Newsnodes

Ähnlich sieht es bei der Sieben-Tage-Inzidenz der Covid-Sterbefälle aus (rechte Tabelle): Auch hier dominieren durchwegs europäische Länder, allerdings in einer ganz anderen Reihenfolge. Österreich kommt da mit einer Rate von etwa fünf Toten pro Million täglich im Siebentagesschnitt "nur" auf Rang 28. Sämtliche europäischen Länder mit mehr Sterbefällen weisen eine noch geringere Impfquote auf, angeführt von Bulgarien (Impfquote 24,4 Prozent) mit einer Inzidenz von knapp 20. Die Impf- und Sterbequote für die EU-27 sieht entsprechend wie folgt aus:

Laut einem neuen Bericht der Weltgesundheitsorganisation vom Dienstagvormittag ist die Pandemie in den letzten Tagen zur Todesursache Nummer eins in der Region (geografisches Europa inklusive Großbritannien) geworden, was vor allem der deutlich ansteckenderen und auch aggressiveren Delta-Variante geschuldet ist. Die Zahl der gemeldeten Todesfälle sei auf fast 4.200 pro Tag gestiegen und habe sich damit gegenüber September verdoppelt. Die Gesamtzahl der gemeldeten Todesfälle in der Region habe laut WHO bereits die Marke von 1,5 Millionen überschritten.

Fallbeispiel Bulgarien

In Bulgarien hat die Pandemie insgesamt bereits 0,4 Prozent der Einwohner dahingerafft. (Zum Vergleich: Österreich hält aktuell bei 0,133 Prozent.) Das sind rund doppelt so viele, wie laut John Ioannidis eigentlich wegen Covid-19 sterben "dürften": Der in der Fachwelt wegen seiner CoV-Studien mittlerweile umstrittene Epidemiologe kam bei seinen Schätzungen der Infection Fatality Rate im Schnitt auf etwa 0,2 Prozent, was von Corona-Verharmlosern nach wie vor gerne als Richtwert zitiert wird.

Doch das kann nicht stimmen, denn diese Zahl würde bedeuten, dass alle Bulgaren quasi doppelt infiziert gewesen sein müssten. Und dennoch sterben in diesem Land aktuell im Vergleich zur Bevölkerungsgröße mehr Menschen an Covid-19 als in jedem anderen. Immerhin sind diese Zahlen in Bulgarien aktuell wieder rückläufig, während sie etwa in Ungarn oder Österreich weiter steigen:

Grafik: Financial Times

Aber wie viele potenzielle Opfer kann Covid-19 in Bulgarien und anderen Ländern in Europa überhaupt noch fordern?

Berechnungen für 19 europäische Länder

Da ist man wieder auf die bekannte Rate der Geimpften und die in den meisten Ländern unbekannte Rate der Genesenen zurückgeworfen. Dennoch hat sich ein Team um Lloyd Chapman (London School of Hygiene and Tropical Medicine) in einem noch nicht vollständig fachbegutachteten Preprint der Aufgabe unterzogen, zumindest für 19 Länder Europas (inklusive Österreich und England) die bisherigen Impf-, Infektions- und Todeszahlen hochzurechnen und daraus die noch mögliche Zahl der Covid-19-Spitalspatienten und CoV-Todesopfer zu modellieren.

Wie nicht weiter verwunderlich, ist in jenen Länder, in denen der Anteil der gefährdeten Personen am höchsten war, auch die Impfrate an niedrigsten. (Laut neuesten US-Daten der CDC senken Impfungen die Wahrscheinlichkeit, positiv getestet zu werden, um das 5,8-Fache und die CoV-Todesrate um das 14-Fache.) Wichtige Faktoren sind aber auch der Anteil der genesenen Personen und der Anteil älterer Bevölkerungsgruppen.

Noch rund 25.000 gefährdete Österreicher

Laut diesen Berechnungen sind etwa in Rumänien, wo die Impfraten sehr gering, die Sterberaten aber sehr hoch sind, maximal noch rund 0,8 Prozent der Bevölkerung gefährdet, wegen Covid im Spital behandelt werden zu müssen, in England hingegen dürfte das nur mehr eine von 1.000 Personen sein, also 0,1 Prozent. In absoluten Zahlen könnten in Deutschland, das eine vergleichsweise alte Bevölkerung hat, immer noch etwa 280.000 Menschen wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, während es in Dänemark nur 6.300 sind.

Zahl der Menschen pro 100.000 Einwohnern, die im jeweiligen Land noch wegen Covid-19 im Spital behandelt werden könnten: auf der x-Achse die Impfquote, die in Rumänien besonders niedrig ist, auf der y-Achse der Anteil der gefährdeten Personen. In Österreich ist dieser recht hoch, wird aber von Griechenland, Deutschland oder den Niederlanden noch übertroffen.
Grafik: Lloyd Chapman et al., medRxiv 2021

Auch Österreich hat laut diesen Maximalberechnungen noch einen relativ hohen Prozentsatz gefährdeter Personen, der bei rund 25.000 liegt. Dafür ist laut den Berechnungen insbesondere die Gruppe der 70- bis 79-Jährigen verantwortlich, bei der die Impfquote mit unter 90 Prozent im internationalen Vergleich immer noch relativ niedrig sind.

Für alle 19 Länder zusammen ermittelten die Forschenden maximal noch rund 900.000 potenzielle CoV-Spitalspatienten und rund 300.000 potenzielle CoV-Todesopfer, also rund ein Drittel der Spitalspatienten (hier spielt das Alter eine entscheidende Rolle). Das alles freilich unter der Annahme, dass keine noch gefährlicheren Varianten auftauchen – und beim Stand der Impf- und Genesenenraten von Anfang November.

Ähnliche Berechnungen der WHO

Die WHO wiederum kam bei ihren methodisch ähnlichen Hochrechnungen zu dem Ergebnis, dass bei den derzeitigen Trends die kumulierte Zahl der Todesopfer in der gesamten europäischen Region bis zum 1. März die 2,2-Millionen-Grenze überschreiten könnte, was also noch 700.000 Tote zusätzlich bedeuten würde. (Zum Vergleich: An den durch Grippe verursachten Atemwegserkrankungen sterben laut den letzten, nach oben korrigierten Zahlen jährlich weltweit bis zu 650.000 Menschen.)

Durch mehrere Strategien ließe sich diese Zahl aber beträchtlich reduzieren, sagte Hans Kluge, der WHO-Regionaldirektor für Europa, am Dienstag. Von entscheidender Bedeutung sei, dass Europa einen "Impfstoff plus"-Ansatz verfolgt. Das bedeute zum einen, dass möglichst viele Basisimpfungen verabreicht werden und eine Auffrischungsimpfung erfolgt, sobald sie angeboten wird. Zum anderen sollten wir weiterhin präventive Maßnahmen (wie das Tragen von Masken, Abstandhalten und Händewaschen) in unsere normalen Routinen einbauen.

So würden Daten zeigen, dass nur 48 Prozent der Menschen in der Region eine Maske tragen, wenn sie das Haus verlassen. Würde sich dieser Anteil auf 95 Prozent erhöhen, könnten bis 1. März allein durch diese Maßnahme mehr als 160.000 Todesfälle verhindert werden. (Klaus Taschwer, 23.11.2021)