Was sich hinter den imposanten Mauern von Museen befindet, bleibt vielen Bürgerinnen und Bürgern verborgen. Sie alle sollen eingeladen werden, sich selbst ein Bild zu machen – und sich aktiv einzubringen.
Foto: Institut für Kunstgeschichte, Armin Plankensteiner

Das Belvedere: imperialer Prachtbau, umgeben von pittoresker Parkanlage, und dazu der weltberühmte Canaletto-Blick. Man könnte meinen, es sollte nicht nur von Touristen gestürmt werden, sondern auch Wiener Herzen höherschlagen lassen. Und doch pilgern längst nicht alle Einheimischen in die Kunsttempel ihrer Stadt.

Marco Catruna (30), nach Selbstdefinition lange desinteressiert, konvertierte erst kürzlich zum Museumsenthusiasten. Als Teilnehmer von "Recht auf Museum?" graduierte er gar zu einem der Stars des Forschungsprojekts. Bei seinem ersten Besuch im Belvedere verblüffte der junge Wiener mit einem guten Auge für Details und erstaunlich treffsicherer Analyse des ihm bislang nicht geläufigen Klimt-Werks "Judith und Holofernes".

Anknüpfungspunkte finden

Als Sohn gehörloser Eltern sei er es "gewohnt, genau hinzuschauen, Übersetzungsprozesse zu gestalten, und dies macht sich auch beim Einlassen auf die Kunst bezahlt", glaubt die Projektleiterin Luise Reitstätter.

Eine der Kompetenzen, die mit Freude am Museumsbesuch assoziiert sind: sich Kunst über den eigenen Blick intuitiv zu erschließen, Fantasie spielen zu lassen. Ein wahrer Glücksgriff für die Forscherin, weil er aufzeige, wie Museumsferne bei den mit einer Mikrokamera akribisch dokumentierten Museumsrundgängen Anknüpfungspunkte zu Haus und Werken finden.

Das vom Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank geförderte Projekt "Recht auf Museum? Eine Studie zu musealen Öffentlichkeitskonzepten und deren Wahrnehmung" des Labors für empirische Bildwissenschaft am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien analysiert historische und heutige Perspektiven. Fünf Museen sind beteiligt: neben dem Belvedere das Haus der Geschichte Österreich, das Kunsthistorische Museum Wien, das Museum für angewandte Kunst und das Volkskundemuseum Wien.

65 Prozent Akademiker

Nach Tiefenbohrungen in deren historischen Archiven startete im Frühsommer 2021 die Feldforschung mit dem öffentlichen Aufruf "Möchten Sie mit mir ins Museum gehen?". Gesucht wurden 20 Personen für einen Bürgerbeirat sowie je 200 Personen für ein Besucherpanel pro Museum, die gegen freien Eintritt Feedback zu ihrem Museumsbesuch geben sollten.

Erste Ergebnisse zeigen: Die Museen erreichen ein Publikum, das über den klassischen Kreis des prototypisch Bildungsbürgerlichen hinausreicht, nicht. Knapp 65 Prozent im Panel haben einen akademischen Abschluss, ebenso viele hohe Museumsaffinität.

Zwei Projekteilnehmerinnen beim Rundgang durch das Obere Belvedere.
Foto: Institut für Kunstgeschichte, Karl Pani

Das Panel besteht zudem zu knapp 70 Prozent aus Frauen. Anders der Beirat. Die bunt gemischte Truppe wurde mit "bewusstem Sampling" nach sechs Diversitätskriterien ausgewählt: Alter, Geschlecht, Bildungs- und Migrationshintergrund, Beeinträchtigungen sowie Museumsaffinität. Catruna wurde Reitstätter über ihren Stammcafetier vermittelt.

Bewusstseinsbildung

Die letzten Daten harren noch der Auswertung, doch 903 ausgefüllte Fragebögen des Besucherpanels sind schon analysiert und erlauben Zwischenresümees. "Das Museum ist ein Brennglas aktueller Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Klimawandel", sagt Reitstätter. "Stimmen aus dem Publikum wollen dezidiert, dass das Museum diverser denkt und einen Dialog darüber führt. Die Auseinandersetzung mit den Kommentaren unseres Beiratsmitglieds, das sich aktiv für LGBTQI+-Themen einsetzt, könnte zu einer geschärften Bewusstseinsbildung führen."

Christian Huemer, Leiter des Belvedere Research Center, schätzt den Reality-Check: "Weil es uns wichtig ist, über unsere Besucherinnen und Besucher mehr zu wissen. Unsere Ansprüche sind klar formuliert, wir wollen ein Museum für alle sein: inklusiv, multiperspektivisch und partizipativ. Aber die Frage ist: Wie kommen wir dorthin?"

Barriere Eintrittspreis

Wäre Gratiseintritt ein erster Schritt? Das Fazit der aktuellen Studie dazu: Hohe Preise halten nicht von einmaligem Besuch ab, sind sehr wohl aber eine Barriere für Mehrfachbesuche und diverseres Publikum. 47,8 Prozent der Befragten fanden die regulären Eintrittspreise "angemessen", immerhin 38,4 Prozent "zu teuer".

Die magische Grenze lag bei zehn Euro. Alles darüber wurde oft als zu teuer empfunden. Auch Unterschiede im Zeitbudget zählten. Eine Teilnehmende: "Wenn man als Wiener öfter und kurz vorbeischauen will, ist das schon sehr teuer."

Politischer Wille

Neben dem Eintrittspreis gebe es noch weitere Barrieren, sagt Huemer. Voraussetzung für freien Eintritt, etwa für Einheimische, sei der politische Wille "nach englischem Vorbild, wo unter Gordon Brown der Gratiseintritt in alle staatlichen Museen eingeführt wurde". In Zeiten stagnierender Basisbudgets bei steigenden Anforderungen sei das auch eine Frage des Budgets.

Huemer verweist auf die Open-Content-Policy des Belvedere als "einzigen Bundesmuseums, dessen Werke man gratis hochauflösend herunterladen" könne. Marco Catruna könne sich die Bilder ausdrucken, als Poster an die Wand hängen, kreativ werden. "Denn darum geht es ja auch, nicht immer belehrt zu werden." Zuvor müsse man aber wissen: "Wie erreichen wir Menschen wie Marco Catruna überhaupt?"

Das Museum befinde sich im radikalen Wandel, und mit ihm die Bedürfnisse des Publikums. Mit der Digitalisierung kam die Transformation. "Wir müssen heute Kunst mit allen machen und für alle bereitstellen – nicht nur für Kunsthistoriker, die sie dann erklären." Früher sprach man vom "Besucher, dem unbekannten Wesen. Heute sind Besuchende anspruchsvolle Wesen."

Fokus auf lokales Publikum

Von diesen bewerten in der Studie 52 Prozent die Klarheit der bereitgestellten Informationen positiv, 48 Prozent die Orientierung im Museum und nur 31 Prozent die Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden. Die neue Empathie der Museen für ihre Besuchenden werde immerhin durchaus bemerkt: Mehr als 80 Prozent haben sich im Museum willkommen gefühlt. Dieser "starke Rückenwind aus der Bevölkerung" hat Reitstätter positiv überrascht: "Das ist eine Ressource, an der man ansetzen kann."

Die Abwesenheit von Tourismus während der Pandemie und damit die freie Sicht auf die Kunstwerke wurden als Pluspunkte besonders hervorgehoben. Auch das ist eines der vorläufigen Ergebnisse der Studie: Dem lokalen Publikum darf gern mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Das Belvedere 21 nehme hier schon jetzt eine Vorreiterrolle ein. Sogenannter "Community-Outreach" bezeichnet den Versuch, die unmittelbare Wohnumgebung, diesfalls das Sonnwendviertel, einzubeziehen. Dieses kritische, aktivistische Element könnte noch aktiver kommuniziert werden, wie die Forscherin meint.

Mixed Reality

Wie digital wird das Museum der Zukunft? Huemer glaubt an eine Ausdifferenzierung in Richtung Hybridität: "Statt Entweder-oder kommt die Mixed Reality." Denn: "Wir glauben, Peter Weibel hat sich geirrt."

Dessen Plädoyer für die Ferngesellschaft während der Corona-Hochphase, nämlich dass physischer Besuch im realen Raum nicht mehr notwendig sei und sich alle in virtuellen Welten verlieren könnten, erteilt er eine Absage. Nach dem Lockdown sei das Gegenteil zu beobachten. "Die Menschen kommen wieder gern ins Museum."

Darunter wohl auch der eine oder andere der Studienteilnehmenden, die ihre Museumskompetenz ständig lustvoll erweiterten. Reitstätters persönliches Highlight: "Einem unserer Beiratsmitglieder war Klimt kein Begriff. Nach seinem zweiten Museumsbesuch im Mak rief er schon begeistert: "Oh, da ist ja der Gustav!" Wiedererkennen macht Freude. (Nadja Sarwat, 28.12.2021)